Sechs Jahre zuvor

8 1 0
                                    

MeinRücken tat weh, das Sitzen wurde immer anstrengender und auch dieaufgebrachten Erzählungen meiner Freundin, die neben mir saß undsich über ihren Exfreund beschwerte, konnten meine Augenlider nichtdaran hindern, immer schwerer zu werden. „Er hat mit Sicherheitnoch keine Neue.", murmelte ich, um wenigstens etwas zum Gesprächbeizutragen und versuchte anschließend, mich wieder meinenAufzeichnungen zu widmen. Es war halb sechs am Abend und dieTatsache, dass ich immernoch in einer Vorlesung saß, verdarb mir dieLaune gehörig. Meine Freundin, die anscheinend verstanden hatte,dass ich keine Lust auf eine Unterhaltung hatte, verkniff sich eineweitere Erzählung darüber, wie ihr Verflossener sein restliches Habund Gut nicht aus ihrer Wohnung abholen wollte und versuchteebenfalls, dem Prof zuzuhören, der soeben die Bedeutung vonempirischer Forschung für die Sozialwissenschaft erläuterte. MeinBlick schweifte jedoch immer wieder zu der Uhr, die über derAusgangstür hing, deren Zeiger sich rekordverdächtig langsam voranbewegten. Noch 15 Minuten, noch 10 Minuten, noch 5, 4,... als derZeiger endlich viertel vor sechs anzeigte hatte ich meine Sachenbereits zusammen gepackt und stand gemeinsam mit meiner Freundin auf.Wir schlenderten den Campus entlang bis ich an meiner Bushaltestelleangelangte und mich von ihr verabschiedete. Zuverlässig setze michder Bus vor meiner Wohnung ab, die ich absolut erschöpft betrat. Eswar ein anstrengender Tag gewesen und ich war froh, zu Hause zu sein.So verliefen die meisten meiner Tage. Ich musste viel für meinStudium tun, verbrachte zahlreiche Stunden in der Woche in derBibliothek und lernte oder schrieb an Protokollen und Hausarbeiten.Mittags traf ich mich meistens mit Freunden aus der Uni zum Essenoder um eine Freistunde im Park zu verbringen. Wir beobachtetenfremde Menschen, schlenderten durch die Gegend und genossen unsereFreizeit miteinander. Ich liebte es, in dieser Stadt zu leben. Siewar so lebendig, so abwechslungsreich und bunt. Es wurde nievollkommen ruhig, denn selbst in tiefster Nacht hörte man immerjemanden, der gerade vom Feiern nach Hause kam oder schon au dem Wegzur Arbeit war. Das genoss ich. Ich sog es in mir auf und es gab mirEnergie, denn auch ich war laut und bunt und fühlte mich hier umeiniges wohler als in dem Land in dem ich aufgewachsen war. Um zustudieren war ich ausgewandert, denn ich wollte einen Ort erkunden,von dem ich dachte, dass er mich vollkommen glücklich machen könnteund für den ich nie zu viel war. Ein Ort der mich in jeder Situationhändeln konnte und von dem es immer mehr zu entdecken gab. DerKontakt zu meinen Eltern und meinen Freunden aus der Heimat warschnell abgeflaut, ich kam sie ein Mal im Jahr besuchen aber auch dasnur aus Pflichtgefühl. Zu viel stand zwischen ihnen und mir. Nichtweil ich eine schlechte Kindheit gehabt hätte sondern weil sieeinfach anders waren als ich.

JedeWoche aufs Neue zählte ich die Tage bis zum Wochenende. Die zweiTage an denen ich jeden Alltagsstress und jede Pflicht hinter mirlassen könnte, an denen ich mich fallen lassen konnte und die Nachtzum Tag machen würde.

Gefangen in dirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt