Ich liege in meinem Bett und denke nach. In letzter Zeit ist dies meine Hauptbeschäftigung. Ich starre an meine Decke und hänge meinen Gedanken nach. Zum einen wäre da meine jetzige Familiensituation, die nicht wirklich gut ist. Meine Eltern haben sich getrennt, da mein Vater meine Mutter betrogen hat. Es war ein grosser Schock für meine ganze Familie. Ich weiss nicht, wie ich noch normal mit meinem Vater sprechen kann, ohne dass ich daran denken muss, dass er unsere Familie zerstört hat. Zum anderen wäre da noch meine beste Freundin. Oder besser gesagt meine ehemals beste Freundin. Wir haben uns letzten Monat ziemlich gestritten und uns bis jetzt noch nicht versöhnt. Noch nie hat einer unserer Streits so lange gedauert. Ich sehe ein, dass ich vielleicht ein wenig einfühlsamer hätte sein können. Doch ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass er sie betrügen würde. Als es passiert ist, habe ich sie getröstet und nur gesagt, dass sie das nächste Mal nicht mehr darauf hereinfallen würde. Sie wurde wütend. Und hier sind wir nun...
Meine Zimmertür geht auf und meine kleine Schwester betritt das Zimmer. Ihr Gesicht ist mit Tränen verschmiert. Ich hebe meine Bettdecke an und sie schlüpft neben mich. Ihr kleiner Körper drückt sich zitternd gegen mich. „Was ist los?", frage ich vorsichtig. „Ich will morgen nicht in die Schule", sagt sie schluchzend. „Wieso nicht?", frage ich verwirrt. „Ich kann da einfach nicht mehr hin", sagt sie. Ich drehe ihren Körper so, dass die mich ansehen muss. „Tut dir jemand weh", frage ich. Sie nickt langsam. „Wer?", frage ich empört. „Lina...", sagt sie leise und sofort schiessen ihr wieder Tränen in die Augen. Ich verdrehe die Augen. Ihre grosse Schwester war mit mir in der Klasse. Auch sie hat mich gemobbt. Ich habe mich genauso schlecht gefühlt wie Mia jetzt. „Sag es zuerst deiner Lehrerin", schlage ich vor. „Sie weiss es", sagt Mia und sieht mich mit ihren braunen Augen traurig an. „Diese Sch...", ich spreche wegen Mia nicht weiter. Ich greife mit meinem Arm über sie und ziehe aus meiner Nachttischschublade eine Tafel Schokolade hervor. Ich halte sie Mia vors Gesicht. Sie beginnt zu strahlen und greift sich die Tafel. Ich lächle. Mit Süssigkeiten kann man ihr immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Am nächsten Morgen klingelt mein Wecker und ich stehe mühsam auf. Mia schläft noch neben mir. Irgendwie war ich diese Nacht froh über die Nähe von einem Menschen. Vorsichtig schleiche ich mich zur Tür und gehe ins Bad. Meine Mutter sitzt auf dem Boden neben der Toilette. Ich seufze. Sie hat wieder einmal die ganze Nacht getrunken. Ich helfe ihr
hoch und lege sie ins Bett. Sie schläft sofort ein. Ich sehe sie an. Ihre Augen sind eingefallen und ihre Haut ist gräulich. So sieht sie in letzter Zeit immer aus. Ich drehe mich schweren Herzens um und gehe aus dem muffigen Zimmer und schliesse die Tür. Mia tapst aus meinem Zimmer. „Wo ist Mom?", fragt sie verschlafen und gähnt. „Sie ist bei schon bei der Arbeit", lüge ich. Mia nickt und geht in die Küche. Ich folge ihr. Unser Frühstück besteht aus Cornflakes ohne Milch und hartem Brot. Ich muss heute unbedingt wieder einkaufen gehen. Nachdem wir uns angezogen haben, bringe ich Mia zur Schule und gehe zur Bushaltestelle. Es ist frostig. Ich ziehe meine Jacke enger um mich. Heute ist Montag und somit der Beginn der Projektwochen. Ich habe mich für die den Chor eingeschrieben, der mit der Band in der Aula probt. Ich setze mich auf die dreckige Bank und hole meine Kopfhörer hervor. Ich mache Musik an und blende den Rest der Welt aus. In der Schule angekommen ziehe ich meine Jacke aus und setze mich in den Stuhlkreis. Syd betritt das Zimmer. Ich lächle ihr zu und sie kommt auf mich zu. Wir umarmen uns und sie setzt sich neben mich. Der Lehrer stellt sich vorne hin und beginnt zu erzählen. Ich höre nicht wirklich zu. „Los gehts!", höre ich ihn sagen und alle stehen auf. Verwirrt bleibe ich sitzen. „Kommst du?", fragt Syd. Ich nicke und wir gehen auf den Gang. Unterdessen hat uns unser Lehrer Notenblätter ausgeteilt. Ich sehe sie durch. Zum Glück sind es nur Lieder die ich kenne und auch einigermassen mag.Wir setzen uns auf eine Bank und hören uns die Lieder an. „Ich mag sie nicht", sagt Syd. Ich zucke mit den Schultern. Mat kommt zu uns. „Wo warst du?", fragt Syd. „Ich habe verschlafen", sagt er genervt. Wir lachen. Er geht in die Aula, kommt aber gleich wieder zu uns. Am Mittag gehe ich in die Mensa. Ich setze mich an den Tisch zu den anderen. Sie begrüssen mich freudig und wir beginnen uns über den Tag auszutauschen.
Am Abend gehe ich nach Hause und unterwegs hole ich Mia bei einer Freundin ab. Ich entschuldige mich bei der Mutter, dass es so lange gedauert hat. Ich fasle irgendetwas von Schule und Projekt. In Wahrheit war ich arbeiten. Unsere Mutter geht schon seit Monaten nicht mehr zur Arbeit und irgendwer muss das Geld verdienen. Doch das darf niemand wissen, sonst würden sie uns ihr wegnehmen. Trotz ihrer Fehler und Suchten liebe ich meine Mutter sehr. Früher hatten wir ein richtig gutes Verhältnis. Seit das mit meinem Vater passiert ist, ist sie anders. Sie trinkt, raucht und weiss was sonst noch. Ich kann sie irgendwie auch verstehen. Leider muss auch Mia diese Veränderung mitansehen, doch ich versuche ihr diesen Anblick zu ersparen. Mia denkt, dass Mom am arbeiten ist und das ist auch gut so. Sie geht jeden Tag zu anderen Freundinnen und kann dort manchmal auch übernachten, was für mich eine grosse Erleichterung ist. Dadurch sieht Mia nie, in welcher Verfassung Mom ist. Etwa eine Stunde pro Tag ist Mom ansprechbar und so normal, dass Mia nichts von den Veränderungen mitbekommt. Das ist auch gut so. Ich will nicht, dass sie meine Mutter hasst.