„Meine Herrschaften, gehen Sie", brummte der Fleischberg in Amtstracht während er sich sichtlich schwermütig aufrichtete. Als sich niemand rührte und eine Schar irritierter Äuglein zurückgaffte, brüllte der Richter zornig: „Hinausscheren sollen Sie sich, Herrgott-nocheinmal!". Dann fiel die Gerichtssaaltür mit einem Knall ins Schloss.
Der feiste Richter schnaufte durch den langen Hauptkorridor des Justizpalastes und pflügte durch die Masse von Mitarbeitern wie ein Hai durch einen Sardinenschwarm.
Ein kleiner Büttel drückte sich gehetzt durch die Ansammlung. Schwer atmend lief er neben dem Richter her, zwischendurch den unzähligen schwarzgekleideten Advokaten ausweichend.„Ich habe hier die pensa facta für Sie, euer Ehren", piepste er.
„Hm? Was meinst du damit? Drück dich verdammt nochmal in einer verständlichen Sprache aus!", murrte der Richter.
„Die Protokolle, die Sie von mir forderten, euer Ehren."
„Nein, nein, nein! Du solltest mir doch eine anständige Arbeit abgeben, du dummer Kerl", tobte der Richter, ohne dem kleinen Büttel oder den Dokumenten auch nur einen Blick zu schenken.
„Aber euer Ehren, Sie meinten doch, ich hätte freie Wahl bei der ..."
„Willst du mir etwa einen Fehler unterstellen?"
„Selbstverständlich nicht, euer Ehren. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam ..."
„Veni, vidi, violini. Schreib das neu!"
„Jawohl, euer Ehren."
Der kleine Büttel verzögerte und wollte sich soeben abwenden.
„Ach, noch etwas ... Büttel! Herkommen sollst du!"
Gehorsam trippelte er dem Richter hinterher und holte ihn keuchend wieder ein.
„Euer Ehren wünschen?"
„Hast du schon von deiner Kollegin, Fräulein Stummlieb, gehört?"
„Hätte ich etwas hören sollen, euer Ehren?"
„Elefantenohren, Büttel! Du sollst immer mit Elefantenohren durch die Welt gehen."
„Jawohl, euer Ehren."
Ein verschwitzter Advokat kam ihnen entgegen und versuchte die Aufmerksamkeit des Richters einzufangen indem er aufgeregt auf ihn einredete. Anscheinend hatte er eine wichtige Botschaft zu überbringen. Der Richter überhörte ihn.
„Nun, das Fräulein hat gekündigt. Sie sagte, ihr hättet eine Meinungsverschiedenheit gehabt."
Der kleine Büttel versuchte seine Verwunderung zu verbergen. Er hatte immer ein gutes Verhältnis zu seiner Kollegin gepflegt. Sie würde bestimmt nicht seinetwegen die Abteilung verlassen.
„Ich wüsste nicht, was sie ..."
„Sei still! Versuch erst gar nicht mich anzulügen", unterbrach ihn der Richter.
Ein junger Kollege lief vorbei und versuchte jedem Blickkontakt wie Giftpfeilen auszuweichen.
„Na, Grabtreu? Hat deine Frau dich schon wieder betrogen?", spottete der Richter.
Der Kollege klammerte sich an seine Aktentasche, als wolle er sie als Schild benutzen. Er wollte gerade sagen, dass er eigentlich Grabfreu hieße und dass er immer noch ledig sei und dass er seine Vorgesetzten satt hatte. Aber stattdessen tat er so, als hätte er nichts gehört und hastete weiter.
„Brauchen Sie mich noch, euer Ehren?", fragte der Büttel nervös.
„Ja. Die Hausordnung wurde um zwei Absätze ergänzt. Irgendetwas mit ‚moralischem Arbeitsrecht' oder ‚rechtmäßiger Arbeitsmoral'. Schreib mir eine Zusammenfassung! Ein wenig Moral hast du bitter nötig, Büttel."
„Jawohl, euer Ehren", sagte der kleine Büttel und machte sich wieder auf den Weg in sein enges Büro. Der Richter trat mit schweren Schritten aus dem Justizpalast.Plötzlich hielt ein schwarzer Wagen vor der Eingangsstiege und der Chauffeur öffnete einem hochgewachsenen Anzugträger die Tür. Der Richter stolperte hastig die Stufen hinunter und verbeugte sich so tief es ihm sein Bauch erlaubte. Ohne den Blick zu heben keuchte er: „Herr Minister! Es ist mir eine ausgesprochene Ehre Sie begrüßen zu dürfen! Ich habe mich den ganzen Tag persönlich mit Ihrem Anliegen beschäftigt und ich denke, eine Lösung gefunden zu haben. Bitte, folgen Sie mir, Herr Minister! Wollen Sie eine Erfrischung? Ich lasse sofort etwas bringen. Nein, wissen Sie was? Ich bringe es Ihnen selbst, Herr Minister! Der Anzug steht Ihnen. Wie geht es Ihrer Frau?".
„Danke, Herr Jurist. Ich finde mich zurecht", sagte der Minister und zündete sich im Vorbeigehen eine Zigarre an, während der Richter unbeachtet zurückblieb.
DU LIEST GERADE
Der Büttel und der Richter
Short StoryEin pikanter Dialog zwischen einem Gerichtsdiener und seinem Vorgesetzten.