Niemals allein

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„Ich will das du gehst!", schreieich, „Hau doch endlich ab." Aber natürlich bleibt sie. Sie gehtnie und schon gar nicht, wenn ich das will.

Sie ist die Stimme in meinem Kopf, diemir zuerst ganz leise und dann immer lauter gesagt hat, wo es langgeht. Irgendwann hat sie mir auch einfach meinen Namen weggenommen.Sie hat mich in eine Ecke gedrängt und gesagt: „Jetzt bin ichMelanie." Ich konnte nichts machen. Mich nicht wehren. Einfachnichts.

Ein paar Wochen danach habe ich ihreinen anderen Namen gegeben, weil ich meinen zurück haben wollte.Lis klang für mich passend, da das „S" zischt, wie bei einerSchlange.

Manchmal habe ich noch das Gefühlmächtiger als Lis zu sein. Sie auch in die Ecke drängen zu können.Sie zu kontrollieren und tun zu können, was ich will. Doch andereMale ist sie so stark, dass ich ihr alles überlassen muss. Sogarmeinen Namen und meinen ganzen Körper.

In solchen Fällen lässt Lis meinenKörper meist durch die ganze Stadt laufen. Oft schüttet sienebenbei noch literweise Alkohol in meinen Mund und wenn mein Körperdann schlafend und sehr betrunken irgendwo im Wald liegt, dannüberlässt Lis die Kontrolle wieder mir. Sie verkriecht sichgemütlich in meinem Kopf und lässt mich unser Leben retten. Ohnemich wäre Lis verloren. Sie handelt zu spontan und sie kennt sichhier nicht aus.

Ständig verliert Lis die Orientierungund braucht mich, um meinen Körper an einen sicheren Ort zurück zuführen. Und sie weiß genau, dass ich das immer wieder tun werde.Ich will leben und deswegen bringe ich meinen Körper immer wieder inSicherheit, auch wenn es bedeutet, dass sie dann auch überlebt.

Irgendwann, da bin ich mir ganz sicher,werde ich sie trotzdem schlagen. Ich werde gewinnen. Ich werdeendgültig gewinnen, wenn sie hilflos ist und mich braucht. Und siewird mich brauchen. Wieder und wieder. Aber, ich brauche sie nicht!Sie kann nicht ohne mich leben, aber ich ohne sie.

Jedes Mal, wenn sie mich für mehr alsein paar Minuten außer Schach setzt, dann stecke ich irgendwo festund mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Ich schaffe es dann nichtwieder nach Hause zu laufen, weil der Alkohol meine Muskelnlahmgelegt hat.

Genau dafür habe ich eigentlich immermein Handy, mit dem ich einen Krankenwaagen rufen kann, griffbereit.Doch aus irgendeinem Grund ist es dieses Mal anders. Meine rechteJackentasche ist leer. Meine Hände gehorchen mir schon fast nichtmehr und ich muss all meine Gedanken darauf konzentrieren auch nochin der anderen Jackentasche nachzusehen. Sie ist leer. Lis kichertfröhlich vor sich hin.

Ich schreie sie an: „Hau doch endlichab! ... Ich will endlich ein Leben ohne dich. Ohne Alkohol. OhneGefahr. Ich brauche dich nicht" Sie beachtet mich nicht mal, dennsie weiß, dass es nur Worte sind und ich nicht genug Kraft habe siezu zerstören. Nicht, wenn mein Körper schon fast bewusstlos ist.

Ach verdammt. Ich muss dieses Handyfinden. Lis kichert weiter und lenkt mich damit ab. Als ich sie nacheinigen weiteren Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, verzweifeltund hilflos anschaue, fängt sie an richtig zu lachen. Eine böseVorahnung überkommt mich, die mit jeder Sekunde stärker wird.

Lis weiß,wo das Handy ist.

Auch wenn es mich extreme Überwindungkostet, schaffe ich es die Worte auszusprechen: „ Lis, ... Melanie,bitte hilf mir. Hilf meinem Körper. Ich schaffe es nicht ohne dich."Sie kommt aus ihrer Ecke hervor und schiebt mich hinein. Ich binkraftlos geworden und wehre mich deshalb nicht. Eigentlich kann siedas rettende Handy nicht an einen anderen Platz tun, ohne dass ich esmitbekomme. Irgendwie muss sie dennoch einen Weg gefunden haben michzu überwältigen und meinen Körper vollständig zu übernehmen.

Eine Verrückte steckt in meinem Körperund sie kann ihn vollständig kontrollieren. Ich kann nichts tun.Meine Gedanken werden immer verzweifelter und hoffnungsloser. Bis ichirgendwann gar nichts mehr denke. Nichts mehr fühle. Und nichts mehrhöre.

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Ich lache: „Sie hat es zugegeben. Sieschafft es nicht ohne mich. NICHT OHNE MICH." Endlich habe ich esgeschafft. Ich habe Melanie besiegt. Nie wieder muss ich mich Lisnennen lassen. Denn ich bin jetzt Melanie. Für immer.

Doch bevor ich meinen Triumph weiterauskosten kann, erinnert der Körper mich daran, dass er schleunigstbehandelt werden muss, denn es war dieses Mal möglicherweisewirklich etwas zu viel Alkohol. Das Handy habe ich am Schuhbefestigt, denn sie konnte es da im Dunkeln nicht sehen. Meine Händezittern und meine Muskeln lassen sich kaum noch bewegen, aber ich binzu aufgeregt und zufrieden, um mich daran stören zu lassen. Endlichschaffe meine schwachen Hände es das Handy von der Befestigung zulösen. Der Bildschirm ist schwarz. Ich drücke ein paar Tasten, abernichts passiert. Verdammt.

Eigentlich gibt es doch immer einenAn-Knopf. Vielleicht muss ich die Knöpfe einfach länger drücken.Oben links beginnend, halte ich jede Taste 5 Sekunden gedrückt.Nichts passiert. Ich versuche es bei weiteren Tasten. Undtatsächlich, plötzlich leuchtet das Display auf. Erleichtert atmeich auf und warte, bis sich das Gerät einschaltet. Ich habe nichtmehr viel Zeit, denn wenn dieser Körper bewusstlos wird, was jedenMoment der Fall sein kann, dann werde ich auch einschlafen und nichtsmehr machen können.

„Endlich", seufze ich. Auf demDisplay des Handys sind Buchstaben erschienen. „Bitte geben sie denPin ein.", lese ich und bekomme Angst. Einen Pin? Was für einenPin? Ich suche danach in meinem Gedächtnis, doch das ist zu benebeltvom Alkohol, um sich ausreichend zu konzentrieren. Da mir nichtsanders übrig bleibt, starre ich wieder zurück auf das Handy. DieBuchstaben sind kaum mehr zu entziffern. Unten in der rechten Eckesteht noch etwas anderes geschrieben. Ich versuche meine Augen daraufzu fokussieren. Auf einmal stelle ich erfreut fest, dass dort„Notruf" steht. Mit letzter Kraft drücke ich die Taste. Dannverschwimmt der Bildschirm vor meinen Augen und mein Körper sinktbewusstlos zu Boden.

Meine wahrscheinlich letzten Gedankenwerden von einem regelmäßigen piepen begleitet. Mir wird klar, dassich Melanie wohl doch brauche. Ich kann ohne sie nicht überleben.Zwar bin ich stärker, aber ohne sie schaffe ich es nicht. Und sieschafft es nicht ohne mich.


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⏰ Last updated: Sep 24, 2018 ⏰

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