2. Leben leben

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Sein Leben lag nun in meinen Händen. Ich suchte nach Alternativen, aber fand keine. Ich sah dem ängstlichen Mann in die Augen und nickte. In seinem Gesicht konnte ich beobachten, wie er diese Information verarbeitete. Ich gestikulierte den Soldaten neben mir, ihn am Tisch zu halten, und stopfte ein Tuch in den Mund des vor mir liegenden Soldaten. Er begriff erst dann, dass seine erträumte Zukunft sich in Luft auflösen würde, als ich anfing zu schneiden. Er versuchte sich noch zu wehren, doch als der Schmerz zu groß wurde, fiel er in Ohnmacht. Trotz zahlreicher Erfahrungen, drehte sich mein Magen immer wieder aufs Neue um.

~

Es war das Beste für ihn. Das redete ich mir immer danach ein. Er wird leben und das ist das einzige, was zählt.
Der beißende Geruch von Blut gemischt mit dem Duft von dreckigem Ruß füllt das kleine Zelt. Ich bin gerade dabei, meine überschaubaren Werkzeuge zu säubern, als ein Soldat ins Lazarett hereinkommt.
„Entschuldigung für die Störung. Ich wollte mich nur an der Stelle meines Bruders bei Ihnen bedanken."
„Ihr Bruder?" Ich kenne den Soldaten vor mir nicht. Er sieht jung aus mit seinen tiefschwarzen Haaren und muss wohl hier neu stationiert sein.
„Ja, dem Soldaten, dem sie gerade das Bein abgeschnitten haben." Er sagt es nicht wie eine Beschuldigung, eher gleichgültig, und doch fühlen sich diese Worte wie eine Beschuldigung an. Ich bin eine Diebin, die dem Soldaten seinen Lebenssinn gestohlen hat.
„Oh, das tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte das nicht -" Es ist auf einmal so warm. Von der Kälte von draußen spüre ich nichts.
"Ich weiß. Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich bin nur gekommen, um mich wirklich bei Ihnen für Ihre außerordentlich gute Arbeit zu bedanken. Sie haben meinem Bruder höchstwahrscheinlich mit dieser Entscheidung das Leben gerettet."
Ich glaube, es hatte sich vorher noch nie jemand wirklich dafür bedankt, dass ich ihm das Bein amputiert habe. Was auch eine bizarre Vorstellung ist, wenn man bedenkt, dass durch meine Entscheidung der Soldat nicht nur seinen Posten verliert, sondern auch in seinem ganzen Leben nie wieder richtig laufen kann.
Erst nach einer kurzen Weile bemerke ich, dass ich ihm nicht geantwortet habe und versuche schnell, die passenden Worte zu finden.
Peinlich berührt fang ich an zu stottern: „Ich-..ehm..ich habe eigentlich nur das getan, was nötig war. Wissen Sie, es ist nicht leicht, diese Entscheidungen zu treffen. Die meisten Soldaten sind oft sauer auf diejenigen, die ihnen so etwas antun, und ich kann diese Männer auch verstehen. Ich habe sie zu Krüppeln gemacht, genau wie Ihren Bruder. Ich möchte mir das Leben Ihres Bruders nicht vorstellen, jetzt, wo all seine Träume geplatzt sind. Ich möchte nicht gemein klingen, aber Sie wissen doch selbst, dass Ihr Bruder mit nur einem Bein keine Chancen mehr auf ein gutes Leben hat. Es tut mir Leid, aber ich verstehe nicht, wieso Sie sich dafür bedanken, dass ich ein Leben zerstört habe. Sie haben das gute Recht wütend auf mich zu sein und mich zu beschuldigen. Ich nehme es Ihnen nicht übel." Während ich geredet habe, konnte ich dem Soldaten nicht in die Augen sehen, sonst wäre ich womöglich in Tränen ausgebrochen. Beschämt starre ich deshalb auf die Füße der vor mir stehenden Person und warte auf eine Reaktion.
Da er jedoch nichts erwidert, schaue ich nun doch hoch und blicke direkt in seine Augen. Irgendwie fühle ich mich ertappt und richte meinen Blick schnell wieder weg, auf die Zeltwand hinter ihm.
Auch nach einigen Sekunden der Stille scheint er nichts sagen zu wollen, weshalb ich mich entschuldigen und weggehen möchte. Doch als ich gerade dabei bin, die Werkzeuge, die nun wieder, so gut es eben geht, sauber sind, wegzuräumen, fängt er plötzlich an irgendetwas vor sich hin zu murmeln, wovon ich kein Wort verstehe.
„Wie bitte?" Meine Stimme hört sich kratzig an, so als hätte ich wochenlang nicht gesprochen. Beschämt über meine Neugier senke ich wieder den Kopf und spüre, wie die Wärme in meine Wangen steigt.
Zum Zelteingang gewandt und mehr zu sich selbst sprechend, fängt er erneut an zu murmeln, doch dieses Mal höre ich ihn deutlicher. „Glaubst du ans Schicksal?"
Erst glaube ich, mich verhört zu haben, aber im Moment ist es relativ ruhig draußen, sodass die Worte klar und deutlich zu mir herüber schallen konnten. Überrascht von der an mich gerichteten Frage blicke ich auf und starre auf den Hinterkopf des Mannes. Er hat eine hässliche Schnittwunde im Nacken, die von der Ferne sehr schmutzig aussieht. Reflexartig greife ich nach einem Tuch und tunke die Spitze in die Schale mit Alkohol. Mit vorsichtigen Schritten trete ich ihm näher und bemerke, wie er sich anspannt, als er meine Schritte hört. Ein kleiner Muskel am Hals, der zuckt.
„Ich weiß es nicht", höre ich mich flüstern. Zaghaft hebe ich meine Hand und warne ihn noch. „Es wird kurz brennen." Bevor er sich umdrehen oder ablehnen kann, drücke ich das Tuch in seine Wunde.
Er versucht, sich stark und männlich zu zeigen und nicht darauf zu reagieren, aber ich höre ihn trotzdem zischen.
Ich versuche, ihn abzulenken, indem ich unser Gespräch fortsetze. „Glaubst du denn an das Schicksal?"
„Ja.", bringt er durch zusammengebissenen Zähnen hervor und fügt dann etwas verzögert hinzu: „Es ist Schicksal, dass das Bein meines Bruders getroffen wurde. Es ist Schicksal, dass du hier bist und es amputiert hast, genauso, wie es Schicksal ist, dass du das hier tust." Mit diesen Worten dreht er sich um. Meine Hand sinkt zu meiner Seite und ich starre in seine Augen. Ein komisches Gefühl übermannt mich, doch ich kann nicht wegsehen. Es scheint, als würde er mein Inneres sehen, eine Stelle von mir, die ich selbst nicht kenne.
„Schicksal muss nicht nett sein. Schicksal sind die Gegebenheiten, die passieren, während wir versuchen, zu leben."

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⏰ Last updated: Apr 24, 2019 ⏰

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