Ich habe die Menschheit nicht geschaffen, damit sie sich bekriegt. Dafür gab ich ihr die Fähigkeit, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, die Perspektive zu ändern, ich gab ihr Empathie und einen Sinn für Gerechtigkeit. Und ich gab ihr die Intelligenz, dies für sich zu nutzen. Und dennoch führen die Menschen Krieg gegen sich selbst. Und wie so oft frage ich mich: Warum? Warum seid ihr so grausam zueinander? War es mein Fehler? Hätte ich all das verhindern können? Ich werde die Antworten wohl nie finden. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nicht aufhören darf, zu hoffen. Zu hoffen, dass die Menschen zur Vernunft kommen. Dass sie zu dem werden, was ich mir erträumt hatte: Einem Weltverbesserer. Doch so wie sie jetzt ist, kann man sie wohl kaum als solche bezeichnen. Sie erschaffen ihr eigenes Ragnarök. Sie sind Weltenzerstörer. Ich verstehe es nicht. Wie kann eine niedere Emotion wie Neid, Gier oder Hass so einen großen Einfluss auf sie haben? So hatte ich es nicht vorgesehen. Statt Gerechtigkeit zu üben ziehen sie Macht aus dem Leid von anderen. Statt Mitgefühl zeigen sie Hass, sie treiben ihre Mitmenschen in die Verzweiflung, sogar in den Tod. Statt die Gefühle anderer zu berücksichtigen sind sie ignorant und selbstsüchtig. Sie machen vor niemandem halt, nicht vor Alt, nicht vor Jung. Nicht vor irgendwem. Sie beurteilen nach Aussehen. Hassen andere für ihre Herkunft. Interessieren sich nicht für das, was in ihren Herzen steckt. Nur ihr eigenes Seelenheil ist ihnen von Bedeutung. Und doch vollbringen sie Großartiges. Sie träumen. Sie hoffen. Sie schaffen. Der Junge, den ich aufgenommen habe, ist dafür wohl das beste Beispiel. Er hat die schlimmsten Seiten der Menschen gesehen. Und dennoch gibt er nicht auf. Er will die Menschheit verändern, verbessern. Das ist sein Traum, doch ich kann nicht begreifen, wo dieser Traum entstanden ist. Müsste er nicht auch verstanden haben, wie die wahre Natur der Menschen aussieht? Ist es einfach nur kindliche Naivität? Oder ist es mein Einfluss auf ihn? Denn so sehr mich auch die Entwicklung der Menschheit enttäuscht, ich wage es nicht, die Hoffnung zu verlieren. Vielleicht ist es auch der Junge, der mit diese Hoffnung schenkt. Wenn er nur für immer so voller Träume bleiben könnte. Aber das wird nicht möglich sein, ich habe ähnliche Kinder aufwachsen sehen. Und sie waren am Ende nicht besser als die, die sie in jungen Jahren so verabscheut haben. Und dennoch. Dieser Junge ist anders. Seine Worte strahlen Weisheit aus. Sehr ungewöhnlich für einen Fünfjährigen. Ob er gekommen ist, um mich zu unterstützen? Um die Menschheit auf den rechten Pfad zu bringen? Um die Weltenverbesserer zu erschaffen, die ich mir immer gewünscht hatte? Ich kann nur beten. Aber zu wem? Zu mir selbst? Wohl kaum. Zu dem Jungen? Vielleicht. Er ist mir ans Herz gewachsen. Und genau das ist der Grund, warum ich es bereue, ihn aufgenommen zu haben. Denn er kann nicht ewig bei mir bleiben, eines Tages wird er gehen müssen. Und eines Tages wird er sterben müssen, ein Luxus, der mir untersagt bleibt. Doch dann kann ich ihn erneut empfangen, mit der gleichen Wärme, die ich empfinde, wenn ich ihn jetzt anblicke. Und dann wird es mir egal sein, was er erreicht hat. Denn er ist zu mir zurückgekehrt. Und das ist, was zählt. Aber wer weiß? Vielleicht wird er der Messias, den die Menschheit braucht. Den ich in ihm sehe. Vielleicht wird er mein Bote. Oder er wird mich übertreffen. Es liegt wohl beides in ferner Zukunft. Aber ja, ich bin mir sicher. Was ich in ihm sehe ist da. Was ich in ihm sehe wird er werden. Und das erfüllt mich mit einem Frieden, den ich seit langem nicht mehr verspürt habe. Ach, wenn er nur wüsste, wer ich bin. Wenn er nur wüsste, was ich bin. Was ich für die Menschheit bin. Ob er mich mit anderen Augen sehen würde? Ob er mich fürchten würde? Ob er mich hassen würde? Ich wüsste nicht, was ich dann tun soll. Der Gedanke allein ist für mich unerträglich. Dafür liebe ich ihn zu sehr. Er ist nicht mein Sohn, das weiß ich. Das wird er auch nie sein. Und er weiß das. Aber dennoch sieht er mich an, als wäre er es. Und das erfüllt mich mit unbeschreiblicher Freude. Ich werde ihn großziehen. Ich werde dafür sorgen, dass er der wird, der werden kann. Das er der wird, den die Menschheit braucht. Vielleicht ist es genau das, was die Menschen brauchen. Einen Erretter aus den eigenen Reihen. Ach, wenn du nur wüsstest, wer du bist. Wenn du nur wüsstest, Junge des Todes.
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Gedanken über den Erretter -Kurzgeschichten-
Short StoryEine Kurzgeschichtensammlung.