Alexander saß in der Schulbibliothek mit einem Buch in der Hand, das die Aufschrift „Antike Heldensagen und Mythen aus der ganzen Welt" in verzierten, pompösen Buchstaben trug. Es war ein dickes Buch und die Seiten fühlten sich rau unter seiner Hand an. Das Buch lag schon seit einer ganzen Weile vor ihm und er hatte es nicht einmal aufgeschlagen. Alexander ließ seinen Blick sanft durch den Raum gleiten und beobachtete die anderen Schüler aus dem Internat. Er erinnerte sich noch ganz genau an seinen ersten Tag an dem Internat. Er wollte nicht hier her, sein gemütliches Zimmer aus dunklem Holz verlassen und mit anderen Menschen seines Alters zusammen leben müssen. Er wollte einfach bei sich zu Hause auf der gemütlichen dunklen Couch sitzen und ein Buch nach dem anderen verschlingen. Aber sein Vater hatte gesagt, dass er als Adelskind die Pflicht in die Wiege gelegen bekommen habe, das Internat zu besuchen, auf dem bereits seine Vorfahren waren!
Ohne Widerworte ließ er die Angestellten des Hauses seine Sachen packen und verschwand aus England nach Amerika. Um genau zu sein, ging es von London nach North Carolina, Asheville. Dort stand nämlich das große Biltmore Estate, der Ort, an dem er unterrichtet wurde in Rechtswissenschaften. Das Anwesen umfasste 32 Quadratkilometer, 250 Zimmer, einen Swimmingpool, einen Bowlingroom und einen Fitnessraum. In den drei Obergeschossen befanden sich die 150 Zimmer, in denen sich die Studenten aufhielten. Im Untergeschoss waren die Freizeiträume und im Erdgeschoss die Hörsäle, die Aula, das Sekretariat, das Dozentenzimmer und die Speisesäle. Die Bibliothek umfasste vom Erdgeschoss an drei Stockwerke mit Büchern aus den verschiedensten Zeiten über die verschiedensten Themen.
Leider bekam Alexander kein Einzelzimmer, was ihn wirklich sehr störte. Normalerweise gab er nicht viel auf seinen Adelstitel, aber genau hier hätte er gerne Gebrauch davon gemacht und sich so ein Zimmer ganz für ihn alleine geholt. Zumindest dachte er das am Anfang seiner Zeit dort. Sein Zimmernachbar Jonathan Christopher Herondale war kein schlechter Typ und sie verstanden sich gut. Nach einem Jahr entstand sogar eine tiefergehende Freundschaft zwischen beiden. Auch wenn Alexander nicht immer gut zu sprechen kam auf die arrogante Art von Jace, verbrachte er doch gerne lange Abende mit ihm, während sie lernten, sich betranken oder einfach Filme sahen.
An dem Internat wurde natürlich nicht nur Rechtswissenschaften gelehrt. Hier konnten auch Medizin, Politikwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Theologie erlernt werden. Alexander wurde in Ryad geboren, da seine Mutter von Arabischer Herkunft war, aber sie zogen als er sechs Jahre alt wurde nach Deutschland. Dort lernte er seinen besten Freund Jamian Tassilo von Arnsberg und seine Schwester Maiblume Laura von Arnsberg kennen, die beide an demselben Internat Medizin studierten. Maiblume, die ein Jahr jünger war als Jamian folgte ihm natürlich ein Jahr später. Genau so war es auch mit Isabelle, seiner eigenen kleinen Schwester, die auch erst ein Jahr nach ihm mit ihrem Studium begann.
Aber nicht nur die Arnsberger waren mit ihm hier, sondern auch die Kaynar. Die Kinder des türkischen Außenministers Baran Kaynar und Leyla Kaynar, die im Bildungsministerium der Türkei arbeitete. Deren Tochter Leyla Kaynar war gut mit Isabelle befreundet und so kam es eines Tages bei einem gemeinsamen Flug nach London, von wo aus die türkischen Geschwister weiter flogen, zu einem ersten Treffen zwischen Alexander und Eren Kaynar. Die jungen Frauen saßen gemeinsam abgeschottet von ihnen, was dazu führte, dass die beiden sich kennenlernten. Sie verstanden sich. Sogar so gut, dass sie ihre Freundschaft weiterführten nach dem ersten Semester. Sogar so gut, dass sie sich bei der Testatparty der Juristen im zweiten Semester auf der Männertoilette der Diskothek in der Stadt heimlich küssten. Es war Alexanders erster Kuss. Er war betrunken, wusste nicht, was er mit seinen Händen tun oder wie er stehen sollte. Also hielt er sich am Kragen von Eren fest, der viel erfahrener war als er selber.
Nach diesem Kuss war Alexander verwirrt und konnte sich nicht vorstellen, wie es nun mit Eren und ihm weitergehen sollte. Es war ihm unangenehm, einen Mann geküsst zu haben. Er widerte sich sogar davor an. Er wusste nicht genau, warum er den Kuss zwischen ihnen initiiert hatte. Warum er das Verlangen nach Eren spürte. Aber es war da und er konnte es nicht bremsen. Nach langem hin und her, konnte der Türke ihn in eine heimliche Beziehung mit ihm verlocken. Und so waren sie nun seit vier Monaten ein Paar. Ein Paar, von dem niemand wusste, abgesehen von Jamian und Mikael. Mikael Lopez Delaguila war der Zimmernachbar von Jamian und Wirtschaftler. Eigentlich wurden Studenten von verschiedenen Fakultäten nicht in ein Zimmer gesteckt, aber in diesem Fall waren alle Zimmer belegt und es blieb keine andere Möglichkeit mehr übrig. Da Alexander oft bei Jamian war, lernten er und Jonathan den Spanier natürlich auch kennen. Er war ein sehr aufgeschlossener und humorvoller Mensch, der die sehr unpraktische Eigenschaft besaß, Dinge zu sagen, die er hätte nicht sagen sollen. Aber Alexander vertraute Jamian und Mikael, was dazu führte, dass die beiden von seiner Beziehung zu Eren wussten. Vor Jonathan verlor er aber kein Wort darüber, denn er befürchtete, neben ihm schwach und unmännlich zu wirken. Das wollte er vermeiden. Alexander hatte immer das Gefühl, dass Jonathan genau die Eigenschaften besaß, die sein Vater in ihm wollte. Klassischer heterosexueller Mann, der geschickt mit Worten war und immer eine gute Antwort auf alles parat hatte. Das passte gar nicht zu ihm... Gerade in diesem Augenblick fiel sein Blick wieder auf das Buch. Auf der Frontseite eine Statue von Herakles abgebildet, dessen muskulöse Gestalt so drei Dimensional präsentiert wurde, dass es beinahe so wirkte, als verließe er das Buch.

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Wo die Liebe hinfällt
RomanceAlexander Gideon Lightwood besucht seit einem Jahr das Elite Internat Biltmore Estate in North Carolina, Asheville und eigentlich läuft auch alles wunderbar. Seine Schwester folgt ihm in diesem Jahr und fängt ebenfalls mit ihrem Jurastudium an, sein...