Meine schwitzenden Handflächen rutschten am Fahrradlenker ab, während
ich in einer Geschwindigkeit fuhr, die hoffentlich keinen Verdacht weckte.Ich versuchte, meinen Blick auf die geradlinige Straße gerichtet zu halten
und nicht über meine Schulter auf den Anhänger aus Holzbrettern zu
schauen, den ich hinter mir herzog.
Als die gleich aussehenden Stadthäuser zu beiden Seiten der Straße
langsam abnahmen, wurde es sogleich dunkler um mich herum. Als ich
schließlich den Stadtrand erreicht hatte, war die Sonne schon
untergegangen.
Bis jetzt hatte ich Glück gehabt. Ich war niemandem, den ich kannte,
begegnet, und es hatte mich auch niemand angehalten, um mich zu fragen,
wohin ich wollte.
An der letzten asphaltierten Straße auf dieser Seite der Stadt angekommen,
hielt ich an. Ich atmete durch und wischte mir die feuchten Hände an
meinem Hemd ab. Mein Rücken war klebrig vor Schweiß. Und ich hatte
kein Wasser mehr.
Aber ich war fast da.
Ich legte meine pulsierenden Hände wieder auf die Griffe des Lenkers und
wollte gerade in die Pedale treten, als hinter mir eine Stimme erklang.
»Violet? Bist du das?«
Ich erstarrte.
Ich kannte diese Stimme. Ich hatte mich daran gewöhnt, sie jeden Montag,
Mittwoch und Freitag zu hören. Sie gehörte Frau Dale, meiner Lehrerin für
Selbstverteidigung.Was machte sie nach Einbruch der Dunkelheit in diesem Stadtteil?
Ich zwang mich zu einem unschuldigen Blick und drehte mich um.
Die Neonstraßenlampe warf ihr Licht auf die große, schlanke,
braunhaarige Frau, die vor Georgettes Waschsalon stand. Sie trug ein Bündel weißer Laken unter dem Arm.
»Guten Abend, Frau Dale«, sagte ich.
»Was machst du hier draußen, Violet?«, fragte sie.
Mein Kiefer zuckte, als sie den Gehweg verließ und auf mich zukam.
»Ich entsorge Frau Connellys altes Geschirr«, erklärte ich. Diese Antwort
hatte ich mir schon überlegt, lange bevor ich heute Morgen mein Zimmerverlassen hatte.
»Oh, ich verstehe«, sagte sie und ihr Blick wanderte zu meinem Anhänger
mit den drei Rädern, ehe sie mich wieder ansah. »Ich wünschte, mir würde
auch jemand bei meinen Erledigungen unter die Arme greifen«, sagte siemit einer Grimasse in Richtung ihres Wäschebündels.
Ich brachte ein halbherziges Lächeln zustande.
Sie musterte mich noch ein paar Sekunden, bevor sie wieder zum
Waschsalon blickte. »Na gut, dann... solltest du dich lieber beeilen. Du
weißt, dass der Schrottplatz abends gruselig wird.«
»Ja«, raunte ich.
»Dann bis Montag.«
Sie drehte sich um und ich atmete leise auf. Dann biss ich die Zähne
zusammen und schaute wieder nach vorn, auf die kleine Pflasterstraße, die
vom Ende des Asphalts abbog. Ich fuhr eine weitere Viertelstunde diesengeschlängelten Weg entlang, an Vororthäuschen und gläsernen
Gewächshäusern vorbei, bis ich vor einem gewellten Eisentor stand – dem
Eingang zum Schrottplatz. Ich öffnete die Tore gerade weit genug, sodass
ich mit meinem Rad hindurchpasste, und fuhr dann hinein. Ich blickte mit
aufgerissenen Augen über die Müllcontainer, die nach verschiedenenFarben geordnet waren. Es war niemand hier. So weit, so gut.
Ein überwältigender, künstlicher Geruch von Minze stieg mir in die Nase,
als ich um die Container herum zum hinteren Teil der Anlage fuhr. DieChemikalien, die die Gesundheitsbehörde hier versprühte, halfen zwar, den
Gestank des Mülls zu überdecken, aber sie bereiteten gleichzeitig dumpfe Kopfschmerzen.Am letzten Müllcontainer, der an der hinteren Wand stand, angekommen,
hielt ich an. Ich zog an den Griffen des Containers vor mir und rollte ihn
langsam nach vorn, bis ich die Wand aus Ziegelsteinen dahinter sehen
konnte. Ich eilte zur Wand und fiel auf die Knie. Dann befühlte ich die
einzelnen Steine und suchte nach dem trügerischen Ziegel. Ich fand ihn
und zog ihn aus seinem Gefüge. Dann holte ich die vorher schon
gelockerten Ziegel dahinter hervor, bis ich ein Loch geschaffen hatte, das
groß genug war, um mich hindurchzulassen.Nun musste ich schnell sein. Schneller als je zuvor. Wenn mich jetzt
jemand entdeckte, dann waren all meine Tage der Vorbereitung, all meine
schlaflosen Nächte umsonst.Ich eilte zu dem Holzanhänger, der an meinem Fahrrad hing, und löste die
Lasche, die den Deckel bis jetzt verschlossen gehalten hatte. Mir klopfte
das Herz bis zum Hals, als ich den Deckel nun öffnete.In der Holzkiste lag, zusammengekauert, die Knie bis an die Brust gezogen
und die Augen fest verschlossen, mein achtjähriger Bruder Timothy.
Mein Blick fiel auf das Mal auf seiner rechten Hand. Das Mal des
schwarzen Halbmonds.Das Mal, das unser Leben für immer verändert hatte
