Before

61 3 2
                                    

Der Oktober näherte sich dem Ende, der Hype um Halloween schien mit dem fortschreitenden Verfall des Monats jedoch nur schlimmer zu werden. Manuel hatte sich mit einer Tasse Kaffee (“Um diese Uhrzeit, Schatz? Wirklich?”) ans Klavier verzogen und spielte seit Stunden, um den Ohrwurm von Nightmare before Christmas zu vertreiben. Soweit funktionierte es nicht, aber die Übung tat ihm gut.
Als er das nächste Mal nach der Tasse griff, stellte er fest, dass sie leer war.
“War’m is’ der Rum immer alle?”, fragte er in seiner besten Jack-Sparrow-Stimme, welche Patrick auf dem Sofa zum Lachen brachte.
“Genug Kaffee für dich, Mänjuäl”, sagte er liebevoll.
Manuel drehte den Kopf, bis er den Blick des anderen erwidern konnte. Eigentlich war die Wohnung zu klein für sie beide; eigentlich sollte er sich unwohl fühlen, dauerhaft umgeben von einer Person. Die Flaggen unter dem Hochbett, die Pflanzen auf den Fensterbänken und das Regal über dem Fernseher, vollgestellt mit Merch und Trophäen, all das sollte ihm Angst machen. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Manuel fühlte sich wohl in der winzigen Wohnung. Einerseits lag es an der funktionierenden Kaffeemaschine, andererseits… an Patrick.
“Ist der Ohrwurm schon weg?”, erkundigte sich der Mann auf der Couch.
Manuel horchte in sich hinein, vernahm aber nur das Lied, das er immer wieder gespielt hatte. Er nickte. Patrick verzog das Gesicht zu einem teuflischen Grinsen.
“This is Halloween”, flüsterte er.
Manuel zog scharf die Luft ein und griff nach der Maske, die er (nur der Ironie halber) auf dem Klavier platziert hatte.
“Ich hasse dich”, erklärte er, das Wurfgeschoss erhoben wie ein semi-kompetenter Ballsportler.
“Nimm das zurück.” Patrick schniefte.
Manuel konnte nie länger als zwei Sekunden böse auf ihn sein, aber die zwei Sekunden kostete er voll aus.
“Wenn du mir neuen Kaffee machst, vielleicht.”
“Dann muss ich wohl damit leben, dass du mich hasst.” Patrick versteckte sich hinter seiner Zeitung und zuckte nur leicht zusammen, als Manuel die Maske gegen das Papier warf. Die Maske, die seine Identität über mehrere Jahre hinweg bestimmt hatte, schlug gegen den Couchtisch und fiel dann zu Boden. Wenig beeindruckt, warf Manuel einen Blick auf seine nicht gerade effektive Waffe, ehe er mit den Schultern zuckte und sich wieder dem Klavier zuwandte.
Er brauchte eine Weile, bis er sich für ein neues Stück entscheiden konnte, aber dann spielte er “For the damaged Coda”, so sanft, wie er konnte. Er hörte das Rascheln der Zeitung, als Patrick ihm wieder seine Aufmerksamkeit schenkte, doch es störte ihn nicht. Manuel war nicht nur in seiner Welt gefangen, Patrick war auch ein Teil seiner Welt geworden. Er konnte sich das, was sein Leben geworden war, nicht mehr ohne den Mann vorstellen.
Seine Finger tanzten langsam auf den Tasten, er bewegte sich vor und zurück, um dem Klavier Emotionen aufzuzwingen. Es machte ihm Spaß. Es tat gut, nach der jahrelangen Pause wieder zu spielen.
Leider sollte der Abend der letzte seiner Art sein.
Manuel wünscht sich, sich daran erinnern zu können, welche Farbe Patricks Shirt hatte oder, wie der Himmel an dem Tag ausgesehen hat. Aber das Einzige, was ihm bleibt, ist das vereinsamte Klavier, das er nicht mehr anrührt, und die Zeitung, die auf dem Couchtisch vergilbt.
Er hat nicht hinsehen können, als er auf Patrick geschossen hat.

Look away when you shoot me [Kürbistumor]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt