After

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“Wenn du die Hausarbeit fertig hast, können wir rausgehen. Sicher, dass du sie überhaupt schreiben willst?”
Maudado hebt eine Augenbraue und schmeißt die leere Packung vegane Gummibärchen hinter sich. Sie verfehlt den Mülleimer um Längen und bleibt einsam auf dem Parkett liegen. Manuel unterdrückt den Impuls, aufzustehen und den Müll zu beseitigen.
“Ich bin noch nicht exmatrikuliert, also schreibe ich den Scheiß”, meint er, in der Hoffnung, das Gespräch beenden zu können.
Maudado zieht einen Energy-Drink aus dem Regal und öffnet ihn mit einem lauten Knacken. “Zombie-Apokalypse reicht wohl noch nicht für die noble Uni Bonn.”
“Hey, die Uni ist ein Schloss, was erwartest du? Musst du nichts schreiben?”
“Als ob die Uni Karlsruhe noch eine Hausarbeit von mir erwartet. Manu, Süßer…”
Maudado beendet seinen Satz nicht und nimmt stattdessen einen Schluck Energy. Als sein Blick nachdenklich wird, weiß Manuel bereits, was gleich folgen wird. Er starrt wieder auf die Literaturliste, deren Formalregeln ihn nicht weniger interessieren könnten.
“Willst du nicht mit ihm reden?”, fragt Maudado, “Er ist ja nur ein Zombie, kein AfD-Wähler.”
“Dado, du bist so vegetarisch, du isst nicht mal normale Gummibärchen.” Manuel sieht von seinem Laptop auf, schiebt das Gerät von seinem Schoß und verschränkt seine Arme. “Warum hast du Mitleid mit Zombies?”
“Weil er dein Verlobter ist, gottverdammt!”
“Sag’ das nicht”, zischt Manuel.
“Gottverda-”
“Verlobter!” Er atmet schwer ein und aus, Hände zu Fäusten geballt. Er vermeidet es, auf seinen, jetzt ring-losen, Finger zu starren. “Er ist ein Monster, Dado, so schwer kann das doch nicht sein!”
“Eddie und Venom waren doch auch ganz glücklich zusammen”, sagt Maudado, von seiner Wut wenig beeindruckt. Taddl hat Dado immer “Inbegriff der Niedlichkeit” genannt, aber Manuel kann das sanfte Lächeln und seine wohlklingende Stimme gerade nicht sehen.
“Venom ist ein Comic!”, brüllt er.
“Ja und? Ihr seid auch Teilbestand zahlreicher Fanfictions-”
“Du willst es nicht verstehen, oder?!” Manuel springt auf und fängt den Laptop gerade noch rechtzeitig auf, bevor er auf dem Boden landet. Das Gerät an sich gepresst, fährt er fort: “Was, wenn er mich umbringt, Dado?”
“Das würde er nicht.”
“Woher willst du das wissen?”, faucht er.
Maudado muss seinem Blick nicht ausweichen, auf seinen Energy starren und sich auf die Lippe beißen, um sich zu verraten. Manuel wusste es schon in dem Moment, als er die Frage gestellt hat.
“Geh’ alleine spazieren”, sagt er laut.
“Manu, komm’ schon…”
“Wenn du jetzt nicht gehst, werfe ich dich ganz raus.”
Er deutet auf die Tür. Maudado wirft ihm einen letzten Blick zu und zieht dann den Kopf ein wie eine verängstigte Schnecke.
“S’ry”, murmelt er, als er seine Schuhe sucht, den Energy so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß werden. Manuel starrt ihn wütend an, schmeißt den Laptop aufs Sofa und marschiert zum Klavier.
Er hört, dass Maudado seine Gummibärchen-Tüte wegschmeißt und so leise wie möglich seine Schuhe zuschnürt. Er hört, wie er vorsichtig die Tür zuzieht.
Und er hört “For the damaged Coda”, immer wieder, bis seine Finger wehtun.

Maudado kommt am Abend mit Fast-Food wieder, dem Manuel keinen zweiten Blick schenkt. Er liegt auf dem Sofa, eingerollt zu einer wütenden Kanonenkugel und die Maske an sein Gesicht gepresst. Seine Finger schmerzen, vom Tippen und Spielen. Sein Kopf meint, bei jeder Bewegung explodieren zu müssen.
Für eine Sekunde ist er neidisch auf Maudados Kontakt zu Patrick, dann fällt ihm wieder ein, über wen (oder was) er gerade nachdenkt. Patrick gibt es nicht mehr, nur ein Monster.
“Hey du.”
Ohne Gnade schiebt Maudado ihn an Seite und setzt sich neben ihn. Sie sind sich so nahe, dass Manuel die Kälte spüren kann, die noch von seinem Freund ausgeht. Er setzt sich langsam auf und wirft die Decke über Maudados eiskalte Schultern.
“Hattest du keine Jacke dabei?”
“Nein.”
“Warum nicht?”
“Du warst wirklich wütend.”
“War ich das?”
“Ja.”
Manuel seufzt. “Sorry, Dado”, bringt er hervor. Die Entschuldigung fühlt sich schmerzhaft in seiner Kehle an, sie lässt ihn erröten und stottern, so wie alles, was er sagt, wenn er sich vollkommen bewusst ist, er selbst zu sein, nicht GermanLetsPlay. Maudado zieht ihm vorsichtig die Maske aus und lächelt ihn an.
“Hey, ich habe für dieses Essen bezahlt. Heute sind keine Zombies auf den Straßen, alles ist ruhig.” Maudado macht eine Pause, in der er ihm die Haare aus dem Gesicht streicht. Er ist so. Nicht, weil er ihn liebt - Maudado ist freundlich zu jedem, den er in sein Herz geschlossen hat.
“Sie greifen in letzter Zeit nicht oft an”, fährt der Blonde fort und beugt sich vor, um die Nudeln aus der Tüte zu holen. Manuel weiß, wie grausam es für ihn sein musste, die Variante mit Hühnchen zu kaufen und zu tragen, daher nimmt er die Box sofort entgegen.
“Schön für sie, vielleicht haben sie inzwischen genug Menschen gefressen”, meint er und öffnet die Schachtel. Sofort fallen ihm mehrere Nudeln auf den Schoß - wie üblich.
“Mh mh”, macht Maudado, nicht, weil er den Mund voll hätte (Maudado schafft es, sich trotz Nudeln äußerst eloquent auszudrücken), sondern, weil er nicht widersprechen will. Manuel hat diese Wirkung auf andere. Es macht ihn manchmal traurig, auf diese Art und Weise dominant zu sein.
Patrick wusste ihn zurechtzuweisen, wenn es schlimm wurde; mit sanften Blicken und Gesten, oder einem gemurmelten “Vielleicht ist das eine subjektive Angelegenheit”. Die Erinnerung an seine Stimme tut weh.
Zombie-Patrick hat zuerst nicht gesprochen. Er hat ihn nur angesehen, das Gesicht halb verwest, halb verzerrt.
“Ich muss dir ein Geheimnis erzählen.”
Manuel hat gestarrt, in seelenlose Augen gestarrt und, als er näher gekommen ist, ist er zusammengezuckt wie ein hilfloses Kind.
“Manu?”, unterbricht Maudado seine Gedanken. “Ist es ok, wenn wir skypen?”
Maudado und Michael telefonieren mittlerweile so oft, dass Manuel vermutet, sie könnten nicht mehr ohne einander. Sie sind die Art von Freunde, die Manuel sich nicht getrennt vorstellen möchte. Wenn Maudado das “Center” ist, ist Michael (Zombey, wie er sich damals genannt hat) der “Guide”. Manuel hat sich immer als den “Chief”, den Anführer, gesehen, während Patrick… nun, Patrick war einfach nur da. Er hat nie gelesen und daher die Anspielung auf den uralten Klassiker nicht verstanden.
Also sind es immer nur Manuel, Maudado und Michael, das Triumvirat.
“Klar, warum nicht?”, fragt er zurück.
“Wir können auch einen Film gucken, wenn du magst.”
“Ruf’ ihn an, er wird sich freuen. Ich gehe mit den Nudeln nach oben.”
Oben ist in dem Fall das Hochbett, welches ungefähr zwei Zentimeter über der Decke endet und schon für mehrere “au, shit, mein Kopf”-Unfälle in der Nacht gesorgt hat. Manuel kann sich nicht aufsetzen, er kann aber auf dem Bauch liegen, das Handy auf dem selbst gebastelten Laptop-Halter ablegen und beim Serien Gucken essen. Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn er allein ist oder gerne allein wäre.
“Wehe, du kleckerst”, mahnt Maudado ihn.
“Es ist mein Bett, Dado”, sagt Manuel, nimmt die Box und die Stäbchen und klettert die Leiter nach oben. Er vermeidet es, nach unten zu sehen, aber Maudado ist auch schon damit beschäftigt, seinen Anruf zu starten.
Die Bettwäsche mit Star-Wars-Print riecht als müsse sie wieder gewechselt werden, was Manuel schon ein wenig zu lange vor sich her schiebt. Genervt von seiner eigenen Unfähigkeit, schmeißt er die Decke an Seite und legt sich auf den Bauch.
“Hörst du mich? Jetzt? Jetzt?”
Das Gespräch unten geht in dieser Form noch einige Minuten weiter, dann steckt Manuel sich Kopfhörer in die Ohren, öffnet die South-Park-App und wählt eine zufällige Folge. Es ist nicht leicht, graziös mit Stäbchen zu essen, während Medicinal Fried Chicken läuft, aber er schafft es irgendwie. Nach der Hälfte der Folge legt er die leere Box an Seite und konzentriert sich voll auf die Folge.
Ab und zu hört er Maudado lachen und fragt sich, wie es wohl wäre, wenn Patrick bei ihm wäre. Der echte Patrick, nicht die gruselige Version von ihm, die er geworden ist.
“Ich glaube schon”, sagt Maudado plötzlich, leiser als zuvor. Obwohl Manuel ihn kaum hören kann, macht gerade die gesenkte Stimme auf ihn aufmerksam. Er pausiert das Video, starrt aber weiterhin auf den Bildschirm während er lauscht.
Kurz spürt er Maudados Blick auf ihm, so als würde sich der Mann vergewissern, dass er nicht zuhört.
“Nein”, sagt er dann leise. “Nicht depressiv, aber…”
Wieder ein vorsichtiger Blick. Manuel beißt sich auf die Lippe und zwingt sich dazu, zu lachen.
“Er guckt South Park”, fährt Maudado fort.
Für einige Sekunden ist es vollkommen still. Manuels Herz schlägt so schnell, dass er das Gefühl hat, sich alleine dadurch zu verraten. Obwohl er liebend gern weiter zuhören würde, zwingt er sich dazu, die Serie weiter zu gucken.
Maudado spricht weiter, aber Manuel blendet es aus. Die nächste Folge ist Insheeption. Normalerweise skippt er weiter, aber jetzt lässt er sich von der absurden Dummheit ablenken. Es klappt halbwegs; zumindest hört er nichts mehr außer den verzerrten Stimmen der Kinder und Erwachsenen der durchgedrehten Stadt.
Er schafft noch zwei weitere Folgen, dann schließt er die App und klettert nach unten. Maudado telefoniert noch, aber zu Manuels Erleichterung redet er jetzt über Videospiele.
“Connor könnte mir ins Gesicht schlagen und ich würde ihm dafür danken”, sagt er laut.
Manuel bleibt vor ihm stehen und verzieht angewidert das Gesicht.
“Oh, du hörst zu.”
“Erst seit zwei Sekunden und ich bin schon verstört.”
Maudado lacht. Manuel zwingt ein Lächeln auf seine Lippen und geht in die Küche, um den Müll wegzuwerfen. Als er am Spiegel im Flur vorbei geht, hält er für einen Moment inne und berührt den Bartschatten auf seiner Wange. Eigentlich hätte er nie damit gerechnet, einen Bart zu haben, nachdem er sich jahrelang hinter einer Maske und verstellter Stimme versteckt hat. Patrick wäre stolz auf ihn.
Er wendet sich vom Spiegel ab und wirft die leere Box in die Mülltüte. Maudado hängt die Tüte immer an den Flurschrank vor der Küche anstatt sie in den richtigen Mülleimer zu tun. Ob ihm die zwei Sekunden weniger Arbeit irgendetwas nützen, weiß Manuel nicht, aber solange der Müll in der Tüte landet, ist es ihm egal.
“Michael, wenn er stirbt, startest du das Spiel neu wie ein echter Mann- nein, nein, hör’ mir zu, mir ist es egal, dass er einen neuen Körper bekommt… Die Beziehung mit Hank ist wichtiger, nein, nein, nein, Zombey, hör’ mir zu!”
Manuel ist kurz irritiert, weil Maudado es schafft, gleichzeitig bestimmt und sanft zu klingen. Er setzt sich zu ihm auf die Couch und legt ihm eine Hand auf die Schulter.
“Wir alle lieben Connor, aber geht es dir gut?”
Maudado zieht das Kopfhörerkabel aus dem Laptop, damit Manuel Michaels Lachen hören kann. Es tut gut, wieder jemanden zum Lachen zu bringen.
“Ich bin Student”, sagt Maudado, als würde das alles erklären. Tut es auch.
“Das lasse ich gelten.”
Eine helle Stimme ruft Michaels Namen. Der Mann dreht sich um.
“Komme sofort!”
“Musst du auflegen?”, fragt Maudado.
“Denke schon.”
“Dann pass auf dich auf, verstanden?”
Manuel hört der Verabschiedung nur am Rande zu; er zieht die Beine an und legt den Kopf auf seine Knie. Es fühlt sich falsch an, zwei beste Freunde zu unterbrechen.
Als Maudado aufgelegt hat, lehnt sich der Blonde an Manuels Schulter.
“Ich bin müde”, meint er leise.
“Dann schlaf.”
“Mh mh.”
“Nicht auf mir.”
“Mh mh.”
Manuel unterdrückt die Versuchung, ihn zur Seite zu schubsen. Stattdessen wartet er, bis sein Freund eingeschlafen ist, dann steht er auf, legt ihn ordentlich hin und deckt ihn zu.
Es muss inzwischen 10 Uhr sein, aber er ist noch nicht müde. Nach einem letzten Blick auf Maudado zieht er sich seine Schuhe an und geht.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 26, 2018 ⏰

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Look away when you shoot me [Kürbistumor]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt