Der erste Donnerschlag ertönte, als ich mir gerade die Umrisse meiner Lippen nachzog. Ich zuckte vor Schreck zusammen und der Lipliner hinterließ einen dunkelroten Strich von meinem Mundwinkel bis hin zu meinem Kinn. Ich sah aus wie der Joker, aber in traurig. Seufzend schnappte ich mir ein Abschminktuch, um den Schaden zu beheben. Dabei warf ich einen Blick auf die kleine Badezimmeruhr neben dem Spiegel. Fünf vor acht. Also blieben mir noch zwanzig Minuten, bis ich mich mit Pascale traf, um zu Janas Geburtstag zu gehen. Leider lag Halloween schon zwei Wochen zurück, weswegen ich keine Ausrede hatte, dort als Clown aufzutauchen.
Es donnerte ein zweites Mal. Lauter. Das Gewitter schien nähergekommen zu sein. Egal, es war lächerlich, sich von der aktuellen Wetterlage aus dem Konzept bringen zu lassen. Also beseitigte ich den dunkelroten Strich, zog meine Lippen zu Ende nach, trug Lippenstift auf und betrachtete mein fertiges Make-up. Ich war weder ein Clown noch eine russische Prostituierte. So konnte ich gehen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch zehn Minuten hatte. Ich ließ das Badezimmer unaufgeräumt zurück und ging nach unten. Ich zog mir Stiefeletten und Jacke an, schnappte mir meine Handtasche und die Flasche Malibu, die ich Jana schenken wollte von der Kommode im Flur. Jetzt musste ich mich nur noch von meinem Vater verabschieden und würde pünktlich an meinem Treffpunkt mit Pascale sein.
„Sophia, bist du weg?", rief mein Vater aus dem Wohnzimmer.
„Gleich", antwortete ich.
Die Wohnzimmertür öffnete sich und mein Vater erschien. Ich fragte mich, was er noch von mir wollte. Ich hatte von ihm nie ein „Bleib nicht zu lang weg" oder „Trink nicht zu viel" gehört. Nur ein „Genieß dein Leben, solange du kannst", was, seiner Ansicht nach, jegliche Art des Feierns einschloss. Oft hatte ich versucht, Geschichten aus seiner Jugend aus ihm herauszukitzeln, um zu verstehen, woher diese unübliche Einstellung kam, doch er blieb stets vage. Nur einmal hatte er mir von einer Hochzeit erzählt, die nicht ganz so ausgegangen war, wie man es sich von einer solchen Feierlichkeit gewünscht hätte.
„Die Hochzeit war sehr spontan", hatte mein Vater mir erzählt, „und die Braut hat sich dort hineinreden lassen, ohne wirklich überzeugt zu sein. Als sie dann nach der Eheschließungszeremonie ihren Schleier gelüftet hat, hat auch der Bräutigam erkannt, dass er nicht das bekommen hat, was er wollte. Nun ja, letzten Endes war es die Braut, die Profit aus dieser kurzen Beziehung gezogen hat."
„Also hat sie bei der Scheidung Geld abgestaubt?"
„Kein Geld, aber einen wertvollen Gegenstand", hatte mein Vater lachend geantwortet. Allerdings hat er mir nie verraten, worum es sich bei diesem Gegenstand gehandelt hatte. „Es war mit Sicherheit die beste Hochzeit, der ich je beigewohnt habe und das, obwohl niemand mehrere Tage lang am Stück dem Alkohol und feinen Speisen gefrönt hat."
Jetzt lehnte mein Vater im Türrahmen, fast zwei Meter groß, das braune Haar von grauen Strähnen durchzogen. Wotan Keller sah ganz und gar aussehend wie ein Mitglied des deutschen Spießbürgertums. Wenn man ihn so sah, wäre es doch nicht überraschend, würde er mir jetzt eine Predigt darüber halten, wie ich mich heute Abend zu benehmen hatte – oder zumindest, in welchem Zustand er mich zurückerwartete.
„Bist du sicher, dass du bei dem Gewitter nach draußen willst?"
„Falls es dir entgangen ist, wir feiern bei Jana zu Hause und ein Haus hat für gewöhnlich ein Dach, also gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen."
Solang ich mich erinnern konnte, hatte mein Vater Angst vor Gewittern. Er zeigte es selten offen, doch ich konnte es erkennen. Bei jedem Aufzucken eines Blitzes und dem folgenden Donnerschlag blickte er Richtung Himmel. Dabei spielte es keine Rolle, ob er sich in einem geschlossenen Raum befand oder nicht. Außerdem wurden seine Hände unruhig. Wenn er etwas wie ein Glas oder einen Stift in der Hand hielt, begann er damit zu spielen, um seine Finger beschäftigt zu halten. Hielt er nichts in der Hand, dann suchte er sich etwas. Wahrscheinlich war diese unterschwellige Angst auch der Grund, weswegen ich Gewitter fast ebenso wenig leiden konnte. Zwar spürte ich nicht die permanente Anspannung, die meinen Vater zu durchlaufen schien, doch ich musste mich anfangs nach jedem Donnern wieder daran erinnern, dass es sich bloß um sich aus den Wolken entladende Elektrizität handelte, die in sicherer Entfernung ihren Weg auf die Erde suchte. Den Geburtstag einer Freundin zu verpassen, weil die Wetterlage nicht angenehm war – noch dazu mitten im November – hielt ich allerdings für unangebracht.
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Das Schicksal der Götter
FantasySophia konnte Gewitter noch nie leiden. Ausgerechnet in einer von Blitz und Donner durchsetzten Nacht verschwindet ihr Vater spurlos. Als dann am nächsten Tag zwei fremde, die scheinbar in ihrem Alter sind, vor der Tür stehen und behaupten, ihr Vate...