Sommerhaus, später...

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Die Bäume wiegten sich rhythmisch im warmen Sommerwind. Gebannt verfolgte ich ein fallendes Blatt. Langsam segelt es an der Fensterscheibe vorbei. Noch lange hängen meine Augen an der Stelle, an der es aus meinem Blickfeld verschwunden ist.

"Wollen wir langsam losfahren?"
Ich werde ruckartig zurück in die Wirklichkeit geholt. Die Fensterbank meiner Küche fühlt sich nun kalt unter meinen Fingern an.
Im Türrahmen steht meine Mutter. Ich schaue sie an. Sie schaut mich an.
'Später' denke ich nur und zucke mit den Schultern.
"Wenn du doch nicht willst-"
Ich schüttle den Kopf. Ohne ein weiteres Wort zu sagen geht sie.

Mein Blick richtet sich wieder aus dem Fenster. Unter mir liegt die verlassene Straße. Ein vorbeifliegender Vogel erregt meine Aufmerksamkeit. Ich folge seiner Flugbahn in den Himmel bis er verschwindet.
Ich schaue zurück auf die Straße. Nun ist sie nicht mehr leer und verlassen.
Auf der anderen Straßenseite steht jemand. Alleine.
Er schaut zu mir hoch, ich schaue zu ihm hinunter. Unsere Blicke treffen sich und ich beginne zu lächeln. Traurig lächelt er zurück, hebt die Hand zum Gruß.
Ich winke zaghaft zurück.

Meine Mutter kommt wieder ins Zimmer. "Komm, wir fahren los", sagt sie sanft.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Er steht immer noch dort und schaut zu mir hoch. Er nickt leicht mit dem Kopf, als wolle er mich auffordern endlich zu gehen.
Wiederwillig drehe ich mich weg.
Langsam folge ich meiner Mutter durch den Flur, vorbei an unserem Schlafzimmer.
Meine Vater steht noch in der Wohnung und wartet.
Ohne ein Wort zu sagen gehen wir die Treppe hinunter aus dem Haus.

Ich öffne die Tür zur Rückbank des Autos. Vor mir sitzt meine Mutter. Vater fährt. Hinter ihm, sitzt er. Ich habe nicht bemerkt wie er in das Auto gestiegen ist. Seine traurigen Augen beobachten mich.

Die Fahrt verläuft still. Gelegentlich schaue ich zu ihm rüber und bekomme ein müdes Lächeln zurück. Die Landschaft vor dem Fenster zieht wie in Zeitlupe an mir vorbei. Alles wirkt so vertraut, aber doch so weit weg. Schon bald sehe ich in der Ferne das Meer. Die ersten Häuser erscheinen am Straßenrand.
Doch wir fahren weiter, vorbei an den Wohnsiedlungen, vorbei an der Stadt. Immer weiter. Weit weg.

Vor einem kleinen Haus stoppt mein Vater den Wagen. Ich schaue aus dem Fenster. Es hatte sich verändert seit letztem Mal. Die helle Farbe blätterte von der Hauswand und ein langer Riss zog sich vom Giebel bis zum Boden. Nur die Natur schien genau so wild wie zu vor.

Meine Eltern steigen aus, ich bleibe sitzen. Er auch. Sie holen die Taschen aus dem Kofferraum und tragen sie zum Haus.
Ich bleibe weiter sitzen. Mein Vater kommt zurück, öffnet die Autotür.
"Kommst du?", fragt er vorsichtig.
Ich schaue ihn nicht an. Mein Blick ruht auf Ihm.
"Später", gebe ich kaum hörbar von mir.
"Du kannst nicht ewig weglaufen", versucht er es erneut.
"Später", sage ich etwas lauter.
Ich höre wie sich die Autotür schließt. Wir sind alleine.

Wieder lächle ich ihn an. Er lächelt zurück. "Du solltest zu ihnen gehen", höre ich ihn sagen. Ich schüttle mit dem Kopf. Fragend sieht er mich an.
"Lass uns an den Strand gehen", sage ich entschlossen.
Er nickt traurig. Ich steige aus.

Langsam gehe ich zu dem kleinen Weg hinter dem Zaun. Er folgt mir.
Am Strand streife ich meine Schuhe und Socken von den Füßen. Ich lasse sie liegen und gehe weiter zum Wasser.
Er geht ein paar Schritte hinter mir. Ich höre den Sand unter meinen Füßen knirschen. Am Wasser bleibe ich stehen. Ich lausche dem leisen Rauschen des Meeres und lasse meine Füße vom kühlen Wasser umspülen. Er steht mit ein bisschen Abstand hinter mir.

"Wie geht es dir?", höre ich seine Stimme erneut. Ich zucke mit den Schultern.
"Willst du nicht zu deinen Eltern ins Haus gehen?", fragt er besorgt.
"Später", antworte ich. Er schweigt, ich schweige auch.

"Ich habe dich vermisst", sage ich dann. Traurig schaut er mich an.
"Ich vermisse dich auch."
Ich rede weiter: "Aber jetzt sind wir ja hier, zusammen. Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal hier waren?"
Seine Miene erhellt sich und er nickt traurig mit dem Kopf. Ich wende meinen Blick vom Meer ab und schaue verwirrt zu ihm. Freute er sich denn nicht mich zu sehen?

Langsam streckt er seine Hand aus, legt sie auf meine. Seine Finger sind warm.
Erwartungsvoll schaue ich ihn an.
"Es ist Zeit für mich zu gehen", sagt er. Ich reiße die Augen auf, schüttle den Kopf. "Warum?", frage ich. Traurig sieht er mich an.
Warum machte er das die ganze Zeit?

"Du musst Abschied nehmen, weiter gehen. Nach vorne gucken, nicht zurück. Ich weiß es tut weh, aber hör endlich auf dich zu quälen. Du kannst mich loslassen, ich bleibe trotzdem immer bei dir", sagt er, "Lass mich gehen."
Wieder schüttle ich wild den Kopf. Gefühle und alte Erinnerungen rieseln auf mich ein. Tränen schießen mir in die Augen.

"Lass los", flüstert er wieder.
"Später", antworte ich kopfschüttelnd. Er nimmt mich in den Arm. Tränen laufen über meine Wangen.
"Wir werden uns wieder sehen", murmelt er und löst sich von mir. Er macht einen Schritt von mir weg. Nur noch unsere Hände berühren sich.
Seine sind nun kalt.
"Wann denn?", frage ich verzweifelt. Immer weiter schießen mir Tränen in die Augen. Er lächelt müde, streicht sie mit einer sanften Handbewegung weg.
"Später", flüstert er.
Und dann war er weg.

Sommerhaus, später...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt