Sie fühlte sich nicht wohl, wie sie da so saß. Nein, sie fühlte sich gar nicht wohl. Ehr war es ihr, als befände sie sich in einem von diesen schrecklichen, düsteren Krimis und sei die hauptverdächtige Mörderin, die gerade in diesem großen Saal mit dem Spiegel verhört wurde.
Zwar war das Wohnzimmer hell durch das hereinflutende Sonnenlicht und der Stuhl, auf dem sie saß war auch total bequem und sie konnte sich super daran anlehnen. Ja, die Kuhle der Lehne war fast schon wie für ihren Rücken gemacht und doch konnte sie sich einfach nicht wohl fühlen, obwohl das hier ihr Zuhause war, ihre eigene Wohnung.
Kai saß ihr gegenüber.
Es beunruhigte sie, wie er da so hockte, die Arme vor der Brust verschränkt und diesen komischen Ausdruck im Gesicht als habe er etwas im Mund, was ihm ganz und gar nicht schmecken wollte. Er trug auch einen großen Teil dazu bei, dass sie sich wie eine Unterwürfige mitten in einer Befragung fühlte.
Seine Augen musterten sie zwischen zusammengekniffenen Lidern hindurch und seine Stirn lag in tiefen Falten. Gleich würde der Inspektor eine Frage stellen und die Mörderin damit überführen. Sie konnte es ganz deutlich spüren. Es würde nicht mehr lange dauern, da würde der Detektiv mit der geballten Faust auf den Tisch knallen und sie anschreien, sie drillen, bis sie endlich gestand.
Sie fröstelte und wandte den Blick möglichst unauffällig, wie sie hoffte, von seiner Grimasse ab und beobachtete einen kleinen Vogel, weiter vorne, auf der Fensterbank.
Die Stimmung zwischen ihnen war zwar öfter etwas angespannt, aber so viel Benzin wie jetzt gerade in diesem einen Augenblick war noch nie in der Luft gewesen.
Sie fragte sich, was er denn hatte. Wieso sollte sie sich hier hin setzten und wieso konnte sie nicht einfach fortfahren, das Essen zuzubereiten? Was wollte Kai von ihr und wieso blickte er sie so durchdringend an? Was sollte das alles hier?
Aber sie beschloss, ruhig zu bleiben und sorgfältig darauf zu achten, ja kein Benzin in das eh schon lodernde Feuer zu kippen. Manchmal war er halt so, redete sie sich ein, manchmal fuhr er ein bisschen aus der Haut, tat so, als müsste er etwas wichtiges mit ihr besprechen, als hinge die Welt davon ab. Typisch Kai halt. Und doch, irgendetwas war faul an der ganzen Aktion hier. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es für die beiden üblich war, sich so strikt gegenüber vor dem anderen hin zu setzten und sich an zu starren. Das hatten sie, wenn sie ehrlich war, noch nie getan.
Der Schweiß brach ihr aus, doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und starrte weiterhin stur aus dem Fenster, obwohl der Vogel schon längst weitergezogen war.
„Wir müssen reden.", sagte Kai. Der Satz war zwar kurz, doch es lag so viel Härte und Schwermut darin, dass sie fast schon erschrocken zu ihm aufblickte.
Seine dunklen Augen ruhten immer noch auf ihr wie die eines Geiers, der seine Beute ausmacht und jetzt langsam aber sicher Kurs auf sie nimmt. Es konnte nicht mehr lange dauern und er würde zuschnappen.
Sie versuchte ihre aberwitzigen Gedanken zurück zu drängen und quälte sich ein falsches Lächeln ab. „Aber natürlich, Schatz. Was gibt es denn?"
Wieder dieser komische, fast schon traurige Gesichtsausdruck. Was hatte er denn jetzt? Sollte sie ihn wohl fragen was los war? Aber nein, nein das war doch lächerlich. Es war sicher alles in bester Ordnung, da brauchte sie nun wirklich kein Drama draus zu machen. Jedes Pärchen musste irgendwann mal ein ernstes Gespräch führen und jetzt waren sie wohl an der Reihe. Trotzdem, diesen Geierblick gemischt mit einem Hauch Traurigkeit und Ratlosigkeit konnte er sich echt sparen. Das machte sie noch ganz nervös.
„Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen.", begann er. Seine Stimme war ganz rau und irgendwie kraftlos. „Deine Aufgabe besteht darin, sie einfach nur so gut es dir eben möglich ist zu beantworten, okay?"
Sie nickte nur. Seine eigenartige Ausstrahlung hatte ihre Kehle mit einem rieseigen Kloß gefüllt. Ja, sie hatte doch tatsächlich Angst. Aber wovor denn bitteschön? Tz, dann stelle er ihr halt ein paar Fragen, war doch vollkommen in Ordnung.
„Wie lange sind wir jetzt schon zusammen?"
Oh, diese Frage kam überraschend. Schnell suchte sie nach einer passenden Antwort und ein gedrungenes, erzwungenes Lachen verließ ihren Mund. „Puh, da muss ich jetzt aber überlegen. Drei Jahre vielleicht?"
Er antwortete nicht, sondern fuhr einfach fort mit seiner Befragung. Das alles hatte doch immer und immer mehr erschreckende Ähnlichkeit mit dem Krimi.
„Wann ist unser Jahrestag?"
Wieder so eine dumme Frage. Worauf wollte er eigentlich hinaus? War doch klar, dass sie sich nicht jedes Datum merken konnte. Schon alle Geburtstage ihrer und seiner Familie unter einen Hut zu bekommen war eine Herausforderung. „Irgendwas im September."
„Was ist meine Lieblingsfarbe?"
„Ach, Schatz, was soll das denn? Keine Ahnung, vielleicht grün, damit streichst du zumindest immer alle möglichen Wände im Haus."
„Und welche Musik höre ich am liebsten?"
„Was weiß ich denn?". Langsam wurde sie wütend. Wen er etwas von ihr wollte, dann sollte er es ihr doch einfach direkt sagen und nicht so dämliche Fragen stellen. Doch als sie seinen gekränkten Gesichtsaudruck sah, bemühte sie sich mit besten Kräften, ihm seine gewollte Antwort zu geben. Immer schön an das Benzin denken, bloß kein Feuer. „Die Charts halt. Avicii? Eminem? Rihanna?"
„Und was will ich unbedingt noch machen in diesem Leben?"
„Schnukki, was willst du eigentlich von mir? Möchtest du, dass ich mehr Zeit für dich habe, oder was? Dann sag das doch einfach. Ich kann sicher ein paar Tage mehr Urlaub bekommen. Das kriegen wir schon hin."
„Was will ich noch machen?"
„Bungeejumping?"
Er neigte langsam den Kopf nach unten und fuhr sich mit den Händen durchs wuschelige Haar. Als er wieder aufsah, waren seine Augen ganz matt und er schaute sie verletzt und mit einer tiefen Traurigkeit an.
Was hatte sie denn falsch gemacht?
Und dann begann er zu erzählen: „Wir sind jetzt genau vier Jahre und fünf Monate zusammen. Unser Jahrestag ist am 9. September. Vor diesen vier Jahren haben wir uns an genau diesem Tag um Viertel vor sechs an der Bar kennen gelernt. Deine Lieblingsfarbe ist hellblau und du liebst es, wenn man dir trägerlose, knielange Kleider in dieser Farbe schenkt. Dann strahlen deine Augen immer so und du lächelst so süß. ‚Oh, wie toll. Was für eine schöne Farbe!'. Deine Lieblingsband ist Sunrise Avenue. Die erste Platte hast du von deinem Vater geschenkt bekommen und dein Lieblingslied ist If I Fall, weil du den Anfang davon so unendlich magst und jedes Mal, wirklich jedes Mal, mitsingst. Und bevor du stirbst möchtest du unbedingt noch nach Los Angeles, dich auf den Stern von Barry White stellen, ein Foto davon machen und vor deinen Freundinnen damit angeben, weil du es liebst, sie zu necken. Immer wenn du das tust, werden deine Wangen vor stolz ganz rot und du strahlst wie ein Honigkuchenpferd und siehst dann immer so verdammt glücklich aus. So glücklich, wie ich dich wohl nie werde machen können."
Und damit stand er auf und ging an ihr vorbei aus dem Zimmer hinaus.
Wie erstarrte verharrte sie auf ihrem Sitz und beobachtete wortlos aus dem Fenster, wie er einen Koffer in sein Auto wuchtete und davon fuhr.
Viel später erst wurde ihr bewusst, dass sie wohl nie wieder einen Mann finden würde, der sie so sehr lieben würde wie Kai es getan hatte.
Doch ihr wurde auch bewusst, wie wenig er ihr selbst bedeutet hatte. Viel zu selten hatte sie ihm zugehört, viel zu selten war sie einfach mal Zuhause geblieben und hatte sich neben ihn auf die Coach gesetzt und sich einfach mal eine Weile mit ihm unterhalten. Nichts wusste sie über ihn, absolut gar nichts.
Und sie war geschockt, als sie merkte, dass er die ganze Zeit bloß ein Fremder für sie gewesen war von dem sie gedacht hatte, sie würde ihn kenne... .
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Fremde
Short StorySie fragte sich, was er denn hatte. Wieso sollte sie sich hier hin setzten und wieso konnte sie nicht einfach fortfahren, das Essen zuzubereiten? Was wollte Kai von ihr und wieso blickte er sie so durchdringend an? Was sollte das alles hier?