Eins

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Es war Anfang Dezember, die Temperaturen lagen schon lange nur noch knapp über dem Gefrierpunkt - und Stegi hasste es. Nicht einmal richtiger Schnee war zu sehen, sondern nur dieser ekelhaft schwere, leicht gefrorene Regen, der alles matschig und dreckig machte. Es war nicht so, dass er den Winter nicht eigentlich mögen würde - nur normal hieβ die Vorweihnachtszeit auch nur, sich auf Heiligabend zu freuen, Geschenke zu besorgen und jeden Morgen ein kleines Päckchen von dem Baum, der das Gerüst seines Adventskalenders darstellte, zu pflücken. Nicht so dieses Jahr. Dieses Jahr war seine gröβte Sorge nicht, rechtzeitig für jeden ein Geschenk zu besorgen und niemanden zu vergessen - sondern natürlich ausgerechnet pünktlich zur Adventszeit hatte er mal wieder Schule wechseln müssen und so drehten sich seine Gedanken statt um Geschenke, Weihnachtsmärkte, Feste und Adventskalender dieses Mal darum, sich zu integrieren, neue Kontakte zu finden - auch wenn es schwer war - ob er dieses Mal länger würde bleiben können, wie die Schule ihn aufnehmen würde und ob er im Unterricht mitkommen würde. 

Wäre es nach Stegi gegangen, hätte er nicht jetzt schon gewechselt - nicht so kurz vor den Weihnachtsferien, sondern im neuen Jahr - aber seine neue Schule und seine Eltern waren sich einig gewesen, dass es so besser wäre. So konnte er in Ruhe vier Wochen lang die Schule und seine Mitschüler kennenlernen, bevor es nach dem Jahreswechsel wieder mit dem Klausurenstress weiter gehen würde. Stegi hatte wirklich Glück, dass all seine bisherigen Zensuren von der Schule anerkannt worden waren - er hätte wirklich keine Lust gehabt, irgendeine Klausur wiederholen zu müssen.

Gestern war er zum ersten Mal in seiner neuen Schule gewesen - und alles in allem war alles okay gewesen - aber eben auch nicht mehr. Er war von seinem Klassenleiter abgeholt und in seinen ersten Kurs gebracht worden - und ohne groβe Ansprache oder Erklärung hatte er sich auf einen freien Platz setzen dürfen. Er vermutete stark, dass seine Mitschüler schon vor seiner Ankunft aufgeklärt worden waren, warum er mitten im Schuljahr wechselte und was es mit ihm auf sich hatte. Von vielen wurde er angelächelt, mal freundlich, mal eher schüchtern - aber versucht, mit ihm zu sprechen, hatte keiner. Stegi war ein wenig enttäuscht darüber - auch wenn er es eigentlich nicht anders erwartet hatte. Auβerdem musste er realistisch bleiben - es hätte sowieso nicht funktioniert. Vielleicht würde das alles ein bisschen einfacher werden, wenn - falls - er denn endlich irgendwann einen Gebärden-Dolmetscher zur Seite gestellt bekommen würde, wie es ihm vom Gesetz her zustand - aber so ganz glaubte er daran ja auch schon nicht mehr.

Also hieß es erstmal aushalten und versuchen, das Beste daraus zu machen - besser als die Gehörlosenschule, die er davor besucht hatte, war es allemal. An sich war es dort schon nicht schlecht gewesen - aber auch dort hatte nur ein Teil der Lehrer überhaupt gebärden können. Noch dazu war das Unterrichtsniveau um einiges niedriger gewesen als an einer Regelschule - und das war schlieβlich auch der ausschlaggebende Punkt für Stegi gewesen, um zu wechseln. Er war nur gehörlos, nicht dumm - also wollte er auch nicht so behandelt werden. Und wenn er dafür in zweieinhalb Jahren ein vernünftiges Abschlusszeugnis in der Hand halten konnte - dann war es ihm das wert.

Vor dem Schulgelände parkten und hielten haufenweise PKWs, die ihre kleinen Kinder zum Unterricht brachten.(Fünftklässler - so eine ganz eigene Spezies, die Stegi schon immer zu gleichen Teilen faszinierte und abstieβ) Die Steine auf dem Pausenhof, den er auf dem Weg zu seinem ersten Unterrichtsraum (oder wo er hoffte, dass dieser war) überqueren musste, waren rutschig - und irgendwelche Mittelstufenschüler schienen groβen Spaβ daran zu haben, über den Pausenhof zu rennen, zu schlidern und sich zu schubsen - wobei schon die Hälfte von ihnen nasse Hintern hatte. Stegi hasste dieses Wetter wirklich.

Im Schulgebäude musste er in das Untergeschoss, wo die Oberstufe meistens unterrichtet wurde. Der gang war unglaublich ausladend und durch die einzigen Fenster auf der Nordseite des Gebäudes, die mit Schächten an die Oberfläche zumindest ein wenig Frischluft einlieβen wohl selbst im Sommer nicht wirklich hell - aber normal wussten die Schüler der oberen Klassen sie trotzdem zu schätzen, weil sie hier ihre Ruhe vor den jüngeren Schülern hatten und sich nicht mit irgendwelchen Kindern um Klassenräume streiten mussten. Normalerweise. Heute lief Stegi schon direkt am Ansatz der Treppe in einen Pulk unruhiger, wuseliger Unterstufenschüler hinein - die sich auch auf dem halben Gang verteilt hatten. Erst weiter hinten, vor ihrer Tür, standen Stegis neue Klassenkameraden, sichtlich genauso genervt wie er von der ungewollten Gesellschaft, und während Stegi sich einen Weg durch die Kindermenge bahnte war er ganz froh, ihr Geschrei nicht auch noch hören zu müssen.

Seine Klassenkameraden lächelten ihm zwar freundlich zu, als er sich zu ihnen stellte - blieben aber irgendwie distanziert. Stegi hatte das Gefühl, sie trauten sich nicht, ihn anzusprechen. Er unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Er kannte diese Reaktion - aber sie war so unsinnig. Zum Glück schien es hier keine festen Gruppen zu geben - die meisten Schüler standen oder saβen alleine oder zu zweit rum, mal wurde sich quer über den Gang unterhalten, die meisten schwiegen (Stegi konnte es ihnen nicht verübeln - es war schon sehr früh). So fühlte es sich nicht komisch an, wenn er sich einfach gegen eine Wand lehnen und warten konnte.

Der Flur füllte sich immer weiter (waren das zwei Klassen? Sie waren schon arg viele Schüler für nur einen Kurs) und irgendwann kam zum Glück ein Lehrer, der mitsamt allen kleinen Kindern in dem Computerraum verschwand, der auch hier unten lag. (Wahrscheinlich würden sie jetzt einen Film schauen oder so - wie man es in dem Alter in der Schule eben noch tat. Manchmal vermisste Stegi diese Zeit auch. Aber nur selten.)

Natürlich bemerkte Stegi die Blicke, die ihm zugeworfen wurden. Eine Gruppe an Mitschülern, die eindeutig über ihn sprach - sie sahen immer wieder zu ihm, eine Person nickte sogar in seine Richtung - und ein Mädchen lächelte kurz, als ihre Blicke sich begegneten. Stegi störte es nicht wirklich. Auch das war er irgendwie gewohnt und er konnte es ihnen nicht verdenken - es war nunmal spannend, einen Neuen zu haben und erst recht, wenn dieser wie er anders war. Taub in seinem Fall.

Im nächsten Moment kam Bewegung in die Gruppe und eine Person löste sich daraus - und kam auf Stegi zu. Er war ein wenig überrascht darüber.

Der Junge war relativ groβ, sah gut aus und hatte dunkle, gestylte Haare (Stegi hätte wetten können, dass er zu den Coolen gehörte). Er lächelte, winkte und sagte Hallo. Dann fasste er sich mit einer Hand an die Brust und strich zweimal mit den Fingerspitzen über seine Wange, buchstabierte ein T, ein I und ein M. Er gebärdete.

Mein Name Tim.

Stille Nacht ~ #Stexpert ~ Adventskalender2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt