17. Törtchen

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Ich spürte meine Macht schwinden, fühlte wie meine Beine schwacher wurden und mein Atem flacher ging. Die Uhr in meiner Brust splitterte und schlug den falschen Takt – unregelmäßig und zu schnell. In jedem Tick schwang Schmerz mit und in jedem Tack ein Hauch des Todes. War das die Sterblichkeit? War das das Leben?

Ich saß gekettet und bezwungen auf einem Thron hoch oben auf Iracebeths einsamer Festung in Herzform. Ein verkümmertes, von Würmern zerfressenes Herz. Die rote Königin sah mit einem siegessicheren Lächeln auf ihre liebsten Feindinnen Alice und Mirana herab. Beide hatten Iracebeth so viel Leid zugefügt. Sie liebte und hasste sie gleichermaßen. Aber der Weg des Hasses war leichter und Iracebeth war müde. Ihre Hände zitterten in Angesicht der grenzenlosen Macht, die sich ihr offenbarte. Mich hingegen würdigte die Königin keines Blickes.

Ich krümmte mich auf meinem Stuhl. Es fühlte sich an, als würde man mich verdrehen, an mir herumzerren und reißen. Mal zog man mich in die Länge, mal schlug man mich klein. Vielleicht hätte ich es vermocht gegen Iracebeth zu kämpfen, wären da nicht diese Ketten. Ketten anderer Art als die Raken aus Stahl, die sich um meinen Brustkorb schlangen.

Mein Herz, dachte ich und sah Iracebeth dabei zu wie sie das Steuerrad der Chronosphäre herumriss, wie soll ich mich dem widersetzen?

Eine weitere Woge des Schmerzes überrollte mich. Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr mir.

„Jetzt kommt es auf dich an, Alice", sagte ich.

Tief in ihrem Herzen war Iracebeth noch immer das kleine Kind, das gefunden werden wollte. Alice hatte sie einmal verloren. Doch die beiden waren schon immer mehrere gewesen – einander ebenbürtig. Zusammen waren sie geflogen und gefallen. Ich konnte nur hoffen, dass Alice Iracebeth fangen würde.

Ich fühlte Iracebeth, gefolgt von Alice, in den endlosen Strom meiner Selbst eintauchen. Zumindest hatte es eine Zeit gegeben in der ich angenommen hatte ich sei endlos. Nun begann ich zu zweifeln.

Unter Schmerzen krümmte ich mich, während Iracebeth auf den Schwingen der Zeit dahin flog.

Ich hustete Blut, während sie am Rand der Geschichte zu spielen begann.

Was fühlte ich, als der Moment kam, an dem ich plötzlich bedeutungslos wurde? Der Moment, von dem an alles nur noch Geschichte ist?

Ich fühlte nichts als Überraschung. Die Uhr in meiner Brust blieb mit einem Tick stehen, das in der Leere nachhallte auf die kein Tack mehr folgte. Ich fühlte mich merkwürdig leicht. Ich war frei von all den Ketten meines Daseins. Die metallenen Drähte, Zahnräder und Zeiger, die mein Herz durchbohrt hatten, schienen verschwunden zu sein. Das Schicksal hatte keine Macht mehr über mich. Ich weiß noch wie ich mich verwundert fragte, ob das wohl die Freiheit ist? Auf einmal war da das Ende und gab mir das Gefühl das erste Mal wirklich zu leben. Vielleicht ist das aber auch normal für Totgeweihte.

Ich kostete die Freiheit für einen winzigen Moment, der sich in meine Erinnerung brannte wie eine Ewigkeit. Dann ging alles sehr schnell. Es fühlte sich an als würden all meine Sekunden, Minuten und Stunden sich auf einmal gegen mich wenden und von innen zerfressen. Meine kleinen Sekundare zerfielen zu einem Haufen unbedeutender, metallener Zahnräder – nichts als Schrott und verlorenen Ichs.

Meine Macht bröckelte. Wie die Säulen meiner zeitlosen Zitadelle. Sie klickten ein, fielen in die Tiefe und rissen dabei die vielen Treppen, die die Festung wie feine Spinnennetze durchzogen, mit sich.

Plötzlich war ich immer weniger. Ich begann immer weniger zu sein.

Ich fühlte mich – die Zeit – schrumpfen, verschwinden, zerbrechen, vergehen. Ich wurde ausradiert wie ein Schandfleck dieser bunten, lebendigen Welt, der nun ausgedient hatte. Ich wurde nicht mehr gebraucht, ich verschwand, wurde bedeutungslos. Meine Zeit war gekommen.

„Offenbar ist meine unbezwingbare Maschine in Wahrheit doch bezwingbar."

Von blutenden Herzen und Törtchen und TeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt