1- Ich brauche Trost

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Sie kneift die Augen zu, zählt vorwärts und rückwärts bis zwölf.

,,Wie läuft das Leben?", fragt er.

Die Augen geschlossen lassen und weiterzählen.

,,Es läuft rückwärts." Eine Minute stille, die Zahlen rasen weiter und halten irgendwann abrupt bei der Sieben an. Marly mag die Zahl nicht. Als sie sieben war, sind mehr als nur sieben traurige Dinge passiert. Drei Hände würde sie zum Aufzählen brauchen. Und seit sieben Tagen ist sie hier. Vor mehr als sieben Tagen war sie woanders. Egal.

Odell weiß nicht, ob er bei ihrer Antwort lachen soll. Er tut es trotzdem. Möglicherweise ist das ein Witz- vielleicht auch nicht, auf jeden Fall wird er es nie erfahren.

,,Odell. Ich bin ein Odell."

Marly fragt sich, ob er dabei lächelt. Woher nimmt er die Kraft an einem Dienstagmorgen so enthusiastisch zu klingen? Genau zehn Minuten kennen sie sich und schon hat sie die Vermutung, dass er als Lächelnder geboren wurde, da diese Lippenbewegung einfach nicht von ihm abweicht.

,,Übrigens musst du mir jetzt auch deinen Namen sagen. Das ist ein unausgesprochenes Gesetz!" Er lacht definitiv.

,,Wer sagt, dass ich mich an Gesetze halte?"

,,Du könntest hier nicht als freier Mensch sitzen. Wer ein mal das Gesetz bricht, ist geneigter, es wieder zu tun und so steigt die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden."

,,Super, Sherlock." Die Worte passen nicht zu ihrer Tonlage, purer Sarkasmus. Marley setzt sich auf ihre Finger, um das Zittern zu unterdrücken. Woher kommt es nur?

Irgendwo hat sie mal gelesen, dass Augen der Weg zur Seele sind. Wenn das wirklich so ist, möchte Marly ihre geschlossen halten. Vielleicht denkt die Person ihr gegenüber deswegen, dass sie Kopfschmerzen hat. Die zerbrechlichen Finger streichen über die Schläfe.

Sein Name lautet wirklich Odell, welchen er an mehr Tagen verabscheut, als akzeptiert hat. Das weiß Marly nicht- vieles weiß sie nicht. Doch wenn sie wüsste, wenn er wüsste.

Nun hält Marly die Luft an und versucht, nicht daran zu denken, dass er sie für komisch halten muss. Aber es gibt Wichtigeres, worüber man nachdenken sollte.

Zum Beispiel die Tatsache, dass der Mensch ohne Sauerstoff stirbt. Aber man kann sich auf diese Weise nicht so leicht selbst umbringen. Nicht, dass sie daran interessiert wäre im Meer oder, um einiges realistischer in dieser Stadt, in irgendeinem Waldsee zu treiben.

,,Hat dir jemand je gesagt, dass du so wie ein aufgeblasener Hamster aussiehst?"

Er bereut die Worte direkt, obwohl sie wie beabsichtigt, witzelnd rauskommen. Vielleicht sollte er sich wieder eine Flasche besorgen und einen weiteren Tag so leben, ohne richtig zu leben. Nein, heute nicht. Heute wird er reden, Witze reißen und so tun, als wäre er jemand anderes.

Sie würde lachen, wenn es nicht erst der siebte Tag wäre. Verdammte Zahlen.

,,Kommen wir zur Standardfrage! Wie geht es dir und bitte nicht die Standardantwort gut", versucht Odell es erneut. Was versucht er überhaupt?

,,Und was ist, wenn es mir wirklich gut geht? Dachte, wir hätten diesen Teil in unserem Smalltalk längst abgehackt."

Gespielt verletzt fasst er sich an die Brust. ,,Das nennst du Smalltalk? Ich dachte, wir haben ein tiefgründiges Gespräch!"

,,Witzig." Ironie.

,,Ja, so bin ich halt", grinst er.

,,Ich fand es nicht lustig."

,,Es war aber so gemeint", bleibt er stur.

,,Und was, wenn es einfach nicht witzig war?" Marly ist beharrlich, zeigt ihre sture Seite, die selten zum Ausdruck kommt. Vielleicht tut ihr ein banales Gespräch gut.

,,Ein Witz bleibt ein Witz. Es gibt nur ideale und weniger ideale Zuhörer." Odell hätte zugeben können, dass es gerade versucht hat, seinen Englischlehrer zu zitieren. Vielleicht hätte er es nach wenigen Sekunden erwähnt. Jedoch reißt genau in dem Moment Marly die Augen auf und bricht in schallendes Gelächter aus. Odell steigt mit ein.

,,Und ich dachte wirklich, dass dir Zähne fehlen und du deswegen nicht lachst", wirft er ein, worauf sich die Minute der leichten Herzlichkeit zieht.

,,Du siehst nicht nach gut aus", meint er irgendwann, nachdem sie sich endlich beruhigt hatten. Banalität.

,,Trost. Ich brauche Trost", antwortet sie und fühlt sich nun weniger lustlos, dieses zu Beginn gezwungene Gespräch zu führen.

,,Dann musst du wohl an Gott glauben, Namenlose."

Sie übergeht das mit dem Namen absichtlicht. ,,Was hat das eine mit dem anderen zu tun?"

,,Also glaubst du?"

,,An wen?", antwortet Marly provozierend.

,,Na Gott! Wer denn sonst?"

,,Und ich zog es für einen Moment wirklich in Erwägung, dass du den Weihnachtsmann meinst", spricht sie schmunzelnd, ,,Nein, schon lange nicht mehr."

,,Der Gottesglaube spendet Trost. Weißt du, niemand wünscht sich, dass es nach dem Tod aus und vorbei ist. Gott verspricht nicht nur einen Lebenssinn, sondern auch eine Existenz nach dem Tod."

,,Im Paradies oder der Hölle...Du hast dir viele Gedanken drüber gemacht, nicht wahr?"

,,Vielleicht." Er grinst.

,,Möchtegern Poet. Dafür glaub ich an vielem anderem. Zum Beispiel, dass der Zug jetzt anhält." Marly steht auf und schultert ihre Tasche. Sie lächelt dabei.

,,Das ist eine Tatsache, Glauben funktioniert anders." Er sitzt noch, wobei er auch gleich aufstehen müsste. Odell will nicht, dass sie sieht, in welche Richtung er läuft. Dabei könnte sie unmöglich erraten, dass er dahingehen wird. Es liegt doch soweit in der Ferne.

,,Ich habe Kopfschmerzen." Sie lügt. Wenn sie gleich ausstteigen und über den Asphalt laufen wird, ohne sich ein letztes Mal zu diesem Odell-Typen umzudrehen, warum tut sie das?

,,Was, wenn nicht?"

,,Tja, dann musst du wohl drauf vertrauen, dass ich die Wahrheit sage", schmunzelt sie.

,,Oder du gehst dir jetzt eine Bibel kaufen."

,,Es gibt auch andere Gottheiten. Wie wärs mit Polytheismus? Das wär ne gute Idee!"

,,Dein Namen zu kennen, wäre auch eine gute Idee."
Marly weiß nicht, warum sie ihn nicht verraten will. Vielleicht, weil sie mal ein Buch gelesen hat, indem Namen als Wiedererkennungsmerkmal beschrieben wurden. Sie hätte niemals nach seinem Etikett gefragt, wenn er nicht freiwillig seine Stirn entblösst hätte.

,,Wir werden uns nie wieder sehen, du brauchst ihn nicht."

Er antwortet nicht, wartet und wartet, dies Mal würde er ihn erfahren. Menschen haben den Drang, die Stille zu füllen.

Ein Seufzen, fünf simple Buchstaben. ,,Marly."

,,Auf Wiedersehen, Marly."

Odell dreht sich nicht um, als er aus dem Zug steigt. Sie wundert sich, ob sie nicht doch einen letzten Blick zurückwerfen sollte, was sie sicherlich getan hätte, wenn sie wissen würde, dass er noch dasteht.

Bird Set FreeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt