Fey

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Etwas war schief gegangen. Sie sollte nicht hier sein. Das Mädchen tastete mit ihren aufgerissenen und trockenen Händen den Boden entlang und stieß mit dem Finger auf Metall. Eine Schüssel. Alt, rostig und verbogen; aber das einzige, was sie in diesem dunklen und kargen Raum ablenken konnte. Der einzige Anblick, der sie von ihrer Angst ablenkte. Zitternd fixierte das Mädchen die Schüssel. Der dunkle Raum erhielt nur durch ein vergittertes Fenster ein wenig Licht. Entlang jeder der finsteren Wände schienen Schatten zu tanzen und sich über sie lustig zu machen. Ein Geräusch ließ das Mädchen zusammenzucken und nach links sehen. Angestrengt spähte sie in die Finsternis der Kammer. Das Geräusch ertönte erneut und das Mädchen atmete tief aus. Ein Tropfen war von der feuchten Decke in eine kleine Pfütze gefallen. Weitere leise Geräusche und kleine Schatten – wahrscheinlich Käfer, Spinnen oder Ratten – verursachten immer wieder Schauer am Rücken des Mädchens. Sie konnte sich nicht ablenken, versank immer tiefer in Ungewissheit, Angst, Panik. Wo war sie? Wieso war sie hier? Warum half ihr keiner? Die Geräusche und Bewegungen verschwammen zu einer morbiden, unheimlichen Kulisse für den Alptraum, der ihr Leben zu sein schien. Sie schloss die Augen, wodurch sich ihre Sinne noch stärker auf die Geräusche fokussierten und sie in den Wahnsinn zu treiben drohten. Als sie es nicht mehr aushielt und meinte schreien zu müssen, hörten sie plötzlich auf.

Es war still. Kein huschendes Kratzen von vorbeischleichenden Ratten, kein beinahe unhörbares Tippeln von Käferbeinchen. Nicht einmal der stetige Tropfen Wasser war zu hören. Die Stille zog sich in die Länge und das Mädchen öffnete vorsichtig die Augen. Sie atmete aus und ihr Atem blieb als gräuliche Wolke im Raum hängen. Die Luft schien zu stehen und das Mädchen begann sofort zu frösteln. Warum war es auf einmal so kalt? War es immer schon so gewesen?

Sie blickte sich vorsichtig um und meinte kleine Kristalle in der Luft zu sehen. Sie wandte sich zur Tür. Diese unwahrscheinlich hohe, schwere Holztür mit dem unerreichbaren, vergitterten Fenster darin. All ihre Kraft und ihren Mut zusammennehmend erhob sie sich, machte einen Schritt auf die Türe zu und hielt schlagartige inne. Ein Schrei ging ihr durch Mark und Bein und ließ sie zittern, doch diesmal nicht vor Kälte. Ein Angstschrei, der Schrei eines Menschen. Weitere Geräusche erklangen, von jenseits der Tür. Etwas bewegte sich, mehrere Schritte näherten sich langsam, entfernten sich schnell und kehrten wieder zurück. Ein weiterer Schrei, allerdings weiter entfernt und leiser. Metallisches Klirren – eine Auseinandersetzung mit Waffen? – erklang und wurde durch etwas untermalt, das sich wie unregelmäßige Trommelschläge anhörte. Das Klirren verstummte, doch die Trommel wurde lauter. Plötzlich ertönte ein langgezogener, lauter Schrei, als wäre direkt vor dem Mädchen ein Mensch lebendig aufgespießt worden. Der Schrei klang allerdings nicht aus, sondern wurde einfach abgebrochen, als wäre die Quelle verschluckt worden.

Das Mädchen hatte so stark zu zittern begonnen, dass seine Beine es nicht mehr tragen wollten und saß nun am kalten, rauen Boden des Raumes. Die Trommel verstummte, die Stille kehrte zurück. Einige Herzschläge lange war diese unnatürliche Stille alles, was den Raum beherrschte. Dann schien das Licht, welches durch die Gitter des Türfensters gefallen war, langsam zu verschwinden. Als würde etwas nicht die Quelle des Lichts löschen, sondern ganz langsam, Strahl für Strahl, das Licht selbst aufsaugen. Der Raum wurde noch kälter und die bedrohliche Trommel setzte erneut ein, allerdings langsamer. Die Trommelschläge wurden lauter, näherten sich und mit jedem Schlag wurde das Licht weniger. Nun klangen die Trommelschläge, als würde ein Riese langsam auf den Raum zutrotten, in dem das Mädchen schlotternd und panisch saß. Lauter und schneller, lauter und schneller!

Es wollte schreien, doch aus dem geöffneten Mund kam kein Laut. Plötzlich hielt die Trommel inne. Der Riese stand vor der Tür und das fahle Licht hatte sich in Dunkelheit verwandelt. Doch sie konnte die Dunkelheit sehen! Es erschien ihr, als würde tentakelartiger Nebel durch das Fenster greifen und versuchen, die Lichtstrahlen zu imitieren. Mit einem ohrenbetäubenden Knall flog plötzlich die Tür auf und ...

... im nächsten Moment heulte sie vor Schmerzen. Das Mädchen war mit dem Kopf gegen einen tiefhängend Holzbalken gestoßen und prompt wieder zu Boden gesunken. Einige Augenblicke blieb sie liegen und fühlte nichts außer stechende Kopfschmerzen. Langsam klärte sich ihr Kopf und sie wurde sich auch ihrer Situation wieder bewusst. Sie saß NICHT in einem kalten, dunklen Raum und wurde auch nicht von einer hereinfliegenden Tür zerquetscht. Stattdessen befand sich Fey auf dem Dachboden und lag inmitten einer Ansammlung von Stroh und alten Kleiderfetzen. Vorsichtig stand sie auf und hielt sich den dröhnenden Schädel. Nach und nach kam ihr Geist aus dem dämmrigen Schlafzustand zurück in die Wirklichkeit und erinnerte sie daran, dass sie Emerels Puppe noch nicht gefunden hatte. Torkelnd setzte sie die Suche fort und fragte sich, zum bestimmt hundertsten Mal an diesem Tag, warum es ihr so schwerfiel, Nein zu sagen. Dabei war Emerel, die sonst wegen jeder Kleinigkeit in Tränen ausbrach, nicht einmal sonderlich betrübt gewesen; möglicherweise ein wenig besorgt. Beim Spielen mit Jasons Burschen sei sie verloren gegangen, irgendwo zwischen den Lagerräumen im ersten Stock und dem Dachboden über dem Pferdestall. „Kannst du sie suchen? Sie hat vielleicht Angst, so ganz allein." Fey wurde jedesmal schwach, wenn das kleine Mädchen sie mit ihren großen grünlich blauen Augen ansah. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, und als hätte das Schicksal nur auf diesen Augenblick gewartet, lag plötzlich die verdreckte, unter Stroh begrabene Puppe vor ihr. Vorsichtig hob Fey das Spielzeug auf, entfernte die Strohhalme und den gröbsten Dreck aus den dunklen Wollhaaren, dem ledrigen Gesicht und dem grob genähten Kleid, und steckte die Puppe in eine ihrer praktischen Rocktaschen. Eine Pirouette drehend, sah sie sich ein letztes Mal im Dachboden um, warf einen vernichtenden Blick auf den tiefhängenden Holzbalken und kletterte die Leiter zurück nach unten.

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⏰ Last updated: Jan 16, 2019 ⏰

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