Peter Thorne war Vertreter für Reinigungsmittel. Mit seinen 53 Jahren und seiner untersetzten Statur wirkte er wie ein freundlicher Märchenonkel bei einem Kindergeburtstag. Zumindest so lange, bis man näher herankam und die Augenringe und tiefen Falten in seinem Gesicht bemerkte, die ihm ein müdes, verbrauchtes Aussehen gaben. Früher hatte er immer ein verschmitztes Lächeln im Mundwinkel gehabt und in seinen Augen hatte ein Funkeln gelegen, wie man es nur bei Menschen findet, die mit sich und der Welt im Reinen sind. Früher, ja früher hatte er dafür auch weit mehr Grund gehabt als heute.
Vor rund dreißig Jahren zum Beispiel, als er mit Anfang Zwanzig aus einem kleinen Ort im mittleren Westen nach Pittsburgh gekommen war, um die Welt zu erobern. Damals, zu Beginn der achtziger Jahre hatte er bei CleanSweep, einer der größten Firmen für Putz- und Reinigungsmittel im Osten der USA, als Handlungsreisender angefangen. Wie stolz er gewesen war, als er seinen Vertrag unterschrieben hatte. Ein eigener, wenn auch kleiner Bezirk, in dem er das Gesicht von CleanSweep sein sollte. Natürlich war es am Anfang hart, sich einen Kundenkreis zu erarbeiten. Aber er hatte alles gegeben, stand immer bereit, wenn es neue Produkte vorzuführen oder Abschlüsse zu tätigen gab. Und die Mühe hatte sich ausgezahlt. Im Laufe der Zeit war sein Bezirk größer geworden, was zwar noch mehr Arbeit, aber auch höhere Provisionen bedeutete. Bald darauf hatte er dann Ellen kennen- und liebengelernt. Anfangs hatte er sich gar nicht getraut, sie in seine Einzimmerwohnung neben den Bahngleisen mitzunehmen aus Angst, sie würde mit einem armen Schlucker wie ihm nichts zu tun haben wollen. Aber für sie hatte das gar keine Rolle gespielt. Nur sechs Monate später waren sie in ihre erste kleine gemeinsame Wohnung gezogen und im Sommer 1984 hatten sie schließlich geheiratet. Was war das für eine Feier gewesen. Seine Eltern und alle seine Geschwister waren angereist, sie hatten ein komplettes Restaurant in einem der besseren Viertel von Pittsburgh gemietet und die ganze Nacht durchgefeiert. In den darauf folgenden Jahren war es für sie beide stets aufwärts gegangen, so dass sie erst in eine größere Wohnung gezogen waren und sich schließlich sogar ein kleineres Haus in einem Vorort von Pittsburgh leisten konnten. Dort hatten sie dann die letzten siebenundzwanzig Jahre gelebt und drei Kinder groß gezogen. Gute Jahre waren das gewesen. Natürlich war er selten zuhause; sein Erfolg als Vertreter hatte seinen Bezirk und damit auch seinen Kundenkreis stetig wachsen lassen, so dass seine Verkaufstouren häufig mehrere Tage am Stück dauerten. Außerdem hatte Ellen ihre Arbeit als Sekretärin aufgegeben, als die Kinder kamen und so hatten sie zumindest am Anfang jeden Cent gut gebrauchen können. Aber sie hatten sich durchgebissen.
In den letzten Jahren hatte sich der Wind allerdings gedreht. Michael, ihr Ältester, lebte mittlerweile in New York, Thomas hatte es nach Los Angeles verschlagen und Sarah, ihre Jüngste, war mit ihrem Mann nach Toronto gezogen. Soweit er wusste, ging es allen dreien gut, aber er hatte schon lange keinen von ihnen mehr gesehen und die gegenseitigen Anrufe waren im Laufe der Zeit ebenfalls immer seltener geworden. CleanSweep war auch schon lange nicht mehr der Marktführer, der sie einmal gewesen war, sondern hatte stattdessen in den letzten Jahren schwer mit der Konkurrenz aus Asien zu kämpfen gehabt. Korruption und Missmanagement hatten die Firma schwer gezeichnet, so dass sie heute nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst, sondern vielmehr ein Übernahmekandidat war. Der Druck, der auf den verbliebenen Mitarbeitern lastete, hatte sich dadurch natürlich massiv erhöht und die Ziele, die der Vertrieb zu erfüllen hatte, waren schon lange völlig utopisch. Er hatte natürlich versucht, zu einem anderen Unternehmen zu wechseln, musste aber feststellen, dass er mit Anfang Fünfzig für die Personalabteilungen quasi nicht mehr existierte. Dort wollten sie ausschließlich junge, belastbare Mitarbeiter ohne Privatleben, die für die Firma lebten; seine jahrzehntelange Erfahrung spielte überhaupt keine Rolle. Vor knapp einem Jahr kam dann mit Ellens Krebsdiagnose der bislang letzte und bei weitem härteste Schlag. Die diversen Therapien hatten ihre Ersparnisse seitdem weitgehend aufgezehrt, obwohl er mehr und härter gearbeitet hatte als je zuvor. In den letzten beiden Monaten hatten sie nicht einmal mehr die Raten für Ihr Haus zahlen können. Wenn kein Wunder geschah, würde die Bank ihnen bald die Pistole auf die Brust setzen.
YOU ARE READING
Hunger
HorrorEin vom Schicksal gezeichneter älterer Vertreter möchte am Ende eines langen fruchtlosen Arbeitstages noch einen kleinen Erfolg verbuchen und erlebt eine böse Überraschung.