Kapitel 1

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Ich stürze die rostige Metalltreppe nach unten. Unter meinen Füßen höre ich das Metall knacken und von unten das Plätschern von Wasser. Es läuft an den Wänden nach unten und bedeckt bereits mehrere Zentimeter des Fußbodens. Trotz seines Alters ist er scheinbar immer noch tadellos versiegelt. Der graue schmutzige Anstrich weißt keine Risse auf. Obwohl sich seit einiger Zeit keiner mehr um Tunnel 3 gekümmert hat, sieht er noch aus wie sonst. Lediglich die schwere Stahltür quietscht erbärmlich als ich sie aufziehe. Das Wasser schwappt über die hohe Schwelle und läuft in den dunklen Gang. Bevor ich die Tür schließe, höre ich ein lautes Knacken, dann ein lautes Knallen, schließlich klatscht ein großes Stück der Wand ins trübe Wasser. Eine große Welle schwappt über die Türschwelle und durchnässt meine Hose. Schnell ziehe ich die Tür zu und lasse die schweren Stahlbolzen einschnappen. Durch das kleine Fenster kann ich sehen wie das Wasser immer schneller steigt. Entweder kommen die Pumpen nicht mehr nach, oder sie sind kaputt. Immerhin ist Tunnel 3 schon seit vielen Jahren stillgelegt. Angeblich wegen der kaputten Versiegelung, doch den Unsinn glaube ich nicht. Sie wollen wohl eher der Flüchtlingszustrom begrenzen. Tunnel 3 ist der älteste und am schlechtesten überwacht. Jeder der ein bisschen Ahnung hatte, konnte die Eingangstür finden und bis zur 5. Schleuse gelangen. Wenn man bis dahin gekommen war, konnte man nicht mehr zurück geschickt werden. Wie oft schon bin ich dort hin gegangen und habe mir Essensrationen abgeholt. Auch dieses Mal wieder wollte ich mir eine holen, doch so wie es hinter mir aussieht, kann ich nicht mehr zurück. Dem SCBC wird das sicher nicht gefallen. Ganz im Gegenteil. Wenn ich Glück habe, wirft er mich wieder durch Tor 1 raus, wenn nicht ... Mal sehen.

Senior Chief Base Commander General Razan Krestovozdvizhensky ist ein extrem humorloser Mann. Noch nie konnte er mich leiden, von dem Moment an, als ich auf seiner Bildfläche auftauchte, hatte er mich im Visier. Das Schlimme ist, man kann es ihm noch nicht einmal übel nehmen. Immerhin habe ich ihm seine Autorität streitig gemacht. Jetzt bin ich sehr gespannt was er mit mir anfangen wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er mich einsperren und dort so lange festhalten bis er mich wieder nach draußen wirft, wenn er mich überhaupt reinlässt. Schließlich komme ich von der Oberfläche und bin hochgradig kontaminiert mit allem was da oben so rumschwebt. Die Werte dort sind zwar immer noch eine potentielle Gefahr für die Gesundheit und Fortpflanzung und der Eintritt in den Bunker verlangt eine aufwendige Dekontaminierung inklusive medizinischem Checkup, aber allzu besorgniserregend sind sie nicht. Deshalb gibt es ja die Möglichkeit für die an der Oberfläche Lebenden, sich von Zeit zu Zeit im Bunker Lebensmittel abzuholen. Für mich aber sieht es anders aus. Ich stamme nicht von hier aus Sektor 9 oder den umliegenden Sektoren, sondern aus der sogenannten Soyuz. Genauer gesagt der sotsialisticheskiy soyuz, der Sozialistischen Allianz. Ein Zusammenschluss ehemaliger osteuropäischer Staaten die ehemals zur Sowjetunion gehörten. Geboren wurde ich in Towstyj Lis im Oblast Kiew. Ein kleines Dorf in der Sona widtschuschennja Tschornobylskoji AES, also der radioaktiven Sperrzone rund um das vor knapp über 100 Jahren explodierten Atomkraftwerkes "Tschernobylskaja AES im. W. I. Lenina".
Meine Eltern waren sogenannte Samosely, also illegale Einwohner der Sperrzone. Schon meine Großeltern und Urgroßeltern siedelten in der Sperrzone und lebten dort bis zum Großen Knall. So also hat die radioaktive Strahlung auf Generationen meiner Familie eingewirkt und uns nachhaltig verändert. Missbildungen und Krebserkrankungen traten erstaunlich selten bei uns auf, als hätten wir eine gewisse Immunität gegen die Strahlung, doch unsere DNA hat es nachhaltig verändert. So grundlegend, dass ich und all die anderen Menschen aus der Sperrzone als potentielle Gefahr für alle anderen Mitmenschen gelten. Diese sind angehalten jeden Körperkontakt mit uns zu vermeiden und einen Sicherheitsabstand zu uns einzuhalten. Außerdem verhindert es den Eintritt in den Bunker. Ich bin also im Grunde eine persona non grata. Und das lässt mich der SCBC immer wieder deutlich spüren. Das Leben an der Oberfläche ist schon hart genug. Essen und Wasser haben wir, solange wir es schaffen etwas anzubauen und es vor Diebstahl und Wettereinflüssen zu schützen. Fleisch gibt es nicht, da Tiere meist gefährliche Krankheiten besitzen. Nur Fisch ist essbar, wenn er aus dem Meer kommt und nicht aus Teichen oder Flüssen. Kleidung gibt es auch, zwar nicht in einem besonders guten Zustand, aber tragbar. An allem anderen mangelt es allerdings. Medizinische Versorgung und Ausrüstung ist schwer zu finden. Außerdem herrscht immer noch ein gewisser Konkurrenzkampf. Wir haben es geschafft uns in Gemeinschaften zu organisieren, die einander mehr oder weniger in Ruhe lassen oder einander helfen. Trotzdem gibt es eine nicht unerhebliche Menge von Einzelkämpfern die meinen sich einfach alles nehmen zu können, notfalls mit Gewalt. Die militärischen Kräfte aus den Bunkern helfen nur widerwillig, so müssen wir uns irgendwie selbst organisieren. Das klappt bisher ganz gut, zumindest hier in Sektor 9. In Sektor 5 und 2 soll es wohl wesentlich schlimmer sein. Von den Zuständen in Sektor 18 sind wir zwar noch weit weit entfernt, aber immerhin schaffen wir es irgendwie zu überleben.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 22, 2020 ⏰

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