1. Im Wald

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Stegi saß auf einem umgekippten Baumstamm mitten im Wald. Seine Krallen drückte er immer wieder in das morsche Holz unter ihm und genoss das Gefühl, wenn diese dort festhingen und er so lange erfolglos zerren und ziehen konnte, bis er sie wieder einfuhr. Seine Geschwister und die anderen Jungkatzen trieben sich wahrscheinlich gerade irgendwo in der Stadt herum, die Älteren von ihnen beteiligten sich sogar an den Wachen und Grenzpatrouillen, die durch die Straßen streiften auf der Lauer nach Hundemenschen, die sich in ihr Territorium vorwagten.Stegi selber aber ging fast jeden Tag seine eigenen Wege, suchte die Natur unweit der Stadt auf und traf sich dort mit Tim. Als sein Rudel vor fast acht Jahren hier her gezogen war, hatten sie nach kurzer Zeit gemerkt, dass die verlassene Stadt gar nicht so verlassen war und außer ihnen ein Rudel Hundemenschen dort lebte. Da die Katzen es aber leid waren, immer auf der Flucht zu sein, hatte Stegis Mutter, die Leitkätzin, beschlossen, ihr neues Zuhause trotzdem zu behalten, und sie hatten begonnen, um ihr neues Revier zu kämpfen. Stegi hasste diesen ewigen Krieg und floh, so oft es ging, in den nahen Wald. Mit Tim konnte er hier die Zeit vergessen. Bloß durfte niemals jemand davon erfahren. Denn Stegis bester Freund war ein halber Hund. Hatte er bei ihrer ersten Begegnung noch Angst vor dem damals fremden Jungen gehabt, so hatten sie sich bald angefreundet und das hatte sich auch nicht geändert, als keine Woche später ihre Rudel von der Anwesenheit des jeweils anderen Rudels erfahren hatten. Während ihre Familien begonnen hatten, sich zu bekämpfen, blieb ihre Freundschaft ihr Geheimnis – und hatte bis heute nicht an ihrer Stärke verloren.Aufmerksam spitzte Stegi die Ohren, als er Schritte hörte und sofort erkannte er den Klang von Tims Gang. Vor Vorfreude vergaß er sogar, seine Krallen wieder einzufahren, und kämpfte so gerade verdutzt mit seinen an dem Holz festhängenden Fingern, als Tim zu ihm trat.Dieser durchschaute die Situation sofort und lachte leise über die Ungeschicktheit seines besten Freundes. Dieser knurrte zwar kurz auf, ließ sich dann aber von Tim helfen, der genau wusste, wie er die Finger seines besten Freundes bewegen musste, damit diese sich entspannten und die Krallen sich zurückzogen. Verärgert betrachtete Stegi seine Hände – wenn er aufgeregt oder ängstlich war, versagten manchmal seine Muskeln und schafften es nicht mehr, die Krallen einzuziehen – bevor er sich von seinem besten Freund in dessen Arme ziehen ließ.»Freust du dich so sehr, mich zu sehen?«, zog Tim ihn sofort auf. Stegis Ohren zuckten verlegen. Dass Tim richtig lag, wollte er nicht unbedingt zugeben müssen.»Bild' dir da nichts drauf ein!«Tim lachte nur und setzte sich auf den Baumstamm, der kleinere Halbkater neben ihm. Seit ihrer ersten Begegnung war Tim in die Höhe geschossen, überragte Stegi nun um mehr als einen halben Kopf. Nicht ein Mal mit der vollen Größe seiner Katzenohren war er so groß wie der Hundejunge.Stegi grinste, als er sah, wie die weichen Schlappohren seines Freundes sich freudig aufstellten. Ähnlich wie er selbst konnte Tim diese instinktgesteuerte Körpersprache einfach nicht unterdrücken. Zwar hatte Stegi länger gebraucht, bis er diese immer ganz richtig zu deuten gelernt hatte - manches war so ähnlich wie ihre eigene Körpersprache, drückte aber etwas ganz anderes aus – aber jetzt war es ihm immer ein sicherer Indikator, wie Tim sich gerade fühlte. »Und? Wie war es gestern?«Neugierig sah Stegi zu Tim, der bloß lieb lächelte. Sie hatten sich gestern den ganzen Tag lang nicht sehen können, weil Tim den Tag mit seinem Rudel hatte verbringen müssen. Es war sein sechzehnter Geburtstag gewesen und anders als die Katzenmenschen schienen die Hunde das als Anlass zu sehen, zu feiern. »Schön. Max hat mir ein Bild geschenkt, total süß. Das hängt jetzt bei mir im Zimmer.« Tim stockte, seufzte. Seine gute Laune war plötzlich getrübt.»Ich wünschte, du könntest es sehen.«Stegi seufzte ebenfalls. Sie beide wussten, dass das niemals möglich sein würde. Stegi würde niemals Tims Zuhause sehen können, würde niemals seinen kleinen Bruder kennenlernen, von dem Tim seit dessen Geburt so oft erzählte, und niemals dieses Bild sehen können, das er von ihm bekommen hatte. »Außerdem ...«, Tim zögerte, »Meine Eltern drängen wieder drauf, dass ich mir endlich eine Gefährtin suchen sollte.«Stegi versuchte, seinen Unmut zu unterdrücken. Zwar war Tims und seine Freundschaft immer rein platonisch gewesen ... aber dennoch gefiel ihm der Gedanke nicht. Tim selbst schien es aber nicht anders zu gehen.»Sie wollen halt ... weil ich der Nachfolger bin, dass ich eine Gefährtin bekomme und irgendwann sicher Nachwuchs kriege.«Stegi knurrte leise.»Ich bin froh, dass ich das nicht machen muss. Stell dir mal vor ... wir beide irgendwann Anführer der beiden Rudel.«Tim grinste schwach.»Das würde vielleicht Frieden bedeuten.«Stegi zuckte bloß mit den Schultern.»Ja. Vielleicht. Aber anders als du mit eurem Erbrecht müsste ich mir den Anführerposten erkämpfen. Und das würde ich niemals schaffen. Selbst wenn ... längerfristig hab ich da als Mann eh keine Chance drauf.«Für einen Moment schwiegen beide, bevor Stegi von seinem Sitz aufsprang, wieder wie gewohnt voller Tatendrang und Lebensfreude. Seine Ohren zuckten aufmerksam und sein Schweif war vorfreudig aufgestellt.»Lass uns lieber etwas Schönes machen! Du wirst dich nicht binden, oder? Nicht so schnell zumindest?«Tim folgte seinem Beispiel, blieb dabei aber um einiges ruhiger.»Nein. Nein, werde ich nicht.«»Gut.«Stegi hatte sich abgewandt und nahm nun Anlauf, um mit einen Satz an einen Baum zu springen, der knapp über ihren Köpfen schon stabile Äste trug. Auf so einen kletterte er jetzt mühelos und sah grinsend zu Tim hinunter. Er half seinem besten Freund, dem das Klettern nicht ganz so leicht fiel, wie ihm, ebenfalls auf den ersten Ast zu kommen. Stegi musste sich beherrschen, nur die Krallen der einen Hand auszufahren, mit der er sich in die Rinde des Baumes hakte und nicht die, mit der er gerade noch Tim hochgezogen hatte und dessen Hand er immer noch in seiner hielt.Er wich nun auf einen kleineren, etwas instabileren Ast aus und führte Tim so bis an den Stamm, wo er sich gut festhalten konnte. Zusammen erklommen sie den Baum, Bs die Äste langsam zu instabil zu werden, um noch ihre Körper tragen zu können. Seit Stegi denken konnte, kletterten sie zusammen auf die Bäume des dichten Waldes und inzwischen war ihm das so ins Blut übergegangen, dass er sich blind von Tim hätte führen lassen.Nun saßen die beiden Jungen in dem Baum, nur knapp unter den Kronen der höchsten Bäume, Stegi einen Ast über Tim, sodass er mit seinen baumelnden Füßen immer wieder gegen Tims Oberarme stupsen konnte. Tim grinste nur darüber.»Irgendwann ziehe ich hier her.«Stegi musterte den Wald unter sich und die hohen Bäume um sich herum, die in allen Grüntönen leuchteten.Tim lachte und stupste gegen sein Bein. Stegi stupste zurück.»Hier her? In diese Baumkrone?«»Schwachkopf.« Stegi ließ sich ein Stück von seinem Ast gleiten, ließ sich ein winziges Stück fallen und kam direkt neben Tim auf dem Ast auf, der kaum wackelte durch das zusätzliche Gewicht. »In den Wald.«»Darf ich mitkommen?«Tim rutschte ein Stück näher an den Stamm, als Stegi über ihn kletterte und sich dann dicht neben ihn setzte. Er sah ihn aus hellen Augen heraus an.»Klar. Der Wald gehört dir doch genauso sehr wie mir!«»Aber nicht nur uns beiden!«»Nein«, stimmte der Kater zu, »auch den Tieren. Und den Bäumen.«»Und ein bisschen auch unseren Rudeln.«»Ja, ein bisschen auch denen. Aber die dürfen hier nicht leben.«Tim grinste schief und stupste Stegi mit einem Finger gegen die Seite.»Nur wir. Wir dürfen das.«

Und neben mir: Du ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt