Horizonte erreichen

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Die Teller wurden weggeräumt und Lisa saß vor ihren Platz am Fenster. Mit trüben Augen sah sie hinaus. Jedes Mal war sie fasziniert von diesen riesigen Felsen die an Fuße des Hügels hinausragten. Wie oft war sie schon in die winzige Felsspalte an der Hinterseite geklettert oder krakselte die steilen Felswände empor?

Lisa dachte an die Aussicht die sie immer hatte, wenn sie dort oben auf dem Felsplateau stand. Von dort aus konnte sie alles sehen; das Nachbardorf, den Spielplatz auf dem sie immer mit Mike gespielt hatte und auch das Haus von Mattheo, den sie immer heimlich beobachtet hatte. Doch diese Erinnerungen schienen kein Bild in ihrem Kopf zu erzeugen. Wie durch einen Schleier, so trüb war ihre Erinnerung an die wundervolle Aussicht.

Nur eine Sache gab es, die sie nie aus ihrem Kopf vergessen hatte. Dieses Bild hatte sie so klar und deutlich vor Augen, als säße sie wieder dort oben im grünen Gras aus dem Felsplateau.
Diese hellen und manchmal kräftigen Farben, die von schwarz nach blau, und nach rot und wieder in ein dunkles schwarz verschmolzen.

In den Sommerferien schlich sie sich meist vor Sonnenaufgang aus ihrem Bett und kletterte hinauf auf das steinige und mit leuchtend grünen Gras bedeckte Plateau. Sie liebte den Anblick der aufgehenden Sonne, wenn der Horizont von einem dunklen grau in ein leuchtendes helles rot überging.

Oft vergaß sie Raum und Zeit und begab sich erst am späten Nachmittag wieder zurück auf den Heimweg. Ihr war es egal ob die Sonne schien, oder auch Mal die Regentropfen und Schneeflocken ihre Kleider durchnässten. Denn sie wusste, Zuhause gab es warmen Kakao, der sie innerlich aufwärmte.

Lisa war jeden Tag aufs neue fasziniert von der farblichen Vielfalt des Himmels. Es gab Tage, da kam sie von der Schule nach Hause, aß eine Kleinigkeit zu Mittag und lief wieder hinaus zu den Felsen. Oft nahm sie ihre Schultasche mit und erledige ihre Hausaufgaben auf der grünen Wiese unter dem blauen Himmel, und ließ sich von den warmen Sonnenstrahlen auftanken.

Lisa liebte es, wenn sich der Himmel von einem auf den anderen Moment veränderte. Vor wenigen Minuten war er noch strahlend blau und im nächsten Moment ging dieser helle Blauton in ein wollkiges Grau über. Dann schlug sie meist ihre Schulbücher zu, packe alles in ihren roten Rucksack und ging zu ihrem Unterstellplatz, den sie sich aus Brettern, Ästen und Baumstämmen über die Jahre selber gebaut hatte.
Das war ihr liebster Moment, die schönste Variation des Horizonts. Denn die Sonne strahlte immer noch in ihrer vollsten Kraft auf den Felsvorsprung, während der prasselnde Regen auf die Erde niedersauste.
Endlich begann das farbenfrohe Spektakel, welches Lisas Augen immer wieder aufs neue zum Strahlen brachte.
Am Horizont bildete sich ein Bogen aus den schönsten und hellsten Farben, die es zu bieten gab. Das helle rot das ins ein orange hineinlief und dann in einem gelb in ein helles grün zu einem blau überging und ganz unter zu einem lilafarbenen Ton verschmolz.

Für Lisa war kein Tag wie der andere, obwohl sie immer die selben Dinge tat. Jeden Tag machte sie sich aus ihrem warmen Bett auf, verließ das Haus um in der Schule am Unterricht teilzunehmen und kam wieder die Straße hinauf nach Hause. Tag für Tag erledige sie ihre Hausaufgaben. Manchmal Zuhause und dann wieder auf dem Felsplateau. Alle Tage tat sie die selben Dinge, nur der Himmel war nie der selbe Anblick. Immer zeigte er sich in einer anderen Farbe, in einem anderen blau; mal voller Wolken, mal ganz klar, aber nie gleich. Kein Tag war wie der andere.

An warmen Sommertagen war Lisa gemeinsam mit ihr großen Schwester Luna dort gewesen und sah sich den Sonnenuntergang an. Doch am besten gefielen ihr die Tage, an denen es nach dem Sonnenuntergang nicht richtig dunkel wurde. Die Tage an denen die Strahlen des hell erleuchteten runden Mondes ihre Schatten auf die Felsen warf. Dann wenn alles in Mondlicht leuchtete.
Manchmal kam es vor, dass Lisa und Luna in Mondlicht eingeschlafen waren und erst am nächsten Tag von den warmen Strahlen der aufgehenden Sonne, die in ihren Nasen kitzelte, aufgeweckt wurden.

Jedes Mal, wenn Lisa heute aus dem Fenster schaut und zu den Felswänden empor blickt, macht sich eine unüberwindbare Sehnsucht in ihrem Herzen breit, die wie eine Geschwür heranwächst.

Die Erinnerung an den hochgelegenen Aussichtspunkt wird immer trüber und durch die zuschlagenden Türen des Küchenschranks wird Lisa wieder aus ihrer Traumwelt in Raum und Zeit zurückgeholt. Ihre wässrigen braunen Augen blicken in das Angesicht ihrer Mutter, deren Blick auf den Rollstuhl gerichtet ist, in dem Lisa seit ihrem Autounfall gefesselt ist und durch den nichts anderes als die Erinnerung an das bezaubernde Felsplateau übrig ist.

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