Kapitel 1 "Der Weckruf" - Leseprobe

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Ich saß allein auf dem großen Doppelbett in der Ecke meines Zimmers und blickte starr aus dem Dachfenster des verwinkelten Altbaus. Das leichte Säuseln des Herbstwindes drang durch die undichten Stellen im dunklen Holzrahmen und ließ mich etwas frösteln. Ich zog die Bettdecke, die ich mir wie einen Umhang umgeworfen hatte, etwas fester unter meinem Kinn zusammen. Es war die erste Nacht in meiner eigenen Wohnung. Ein neuer Abschnitt in meinem Leben, auf den ich solange gewartet hatte, war nun angebrochen. Draußen erhellten ein paar Straßenlaternen die kleine Altstadt und der LED-Aushang der Eisdiele auf der anderen Straßenseite flackerte zaghaft in mein Gesicht. Gedankenversunken schwelgte ich in Erinnerungen aus der Zeit vor meinem Umzug. Ich fokussierte den geschwungenen Schriftzug "Geschlossen" solange, bis er vor meinen Augen zu einem Lichtermeer aus orange-pinken Neonfarben verschwamm. Der Wind verstummte und die fröstelnde Kälte wich langsam aus meinen Knochen. Es war, als hätte meine Seele sich für einen Moment von meiner menschlichen Hülle getrennt.
Ich versank im Anblick des Neonlichtes und ein Rauschen übernahm mein Gehör. Wellen aus dem tiefen Ozean meiner Gedanken erhoben sich. "Elena" flüsterte eine vertraute Stimme in meinem Hinterkopf. "Elena". Ich versuchte mich auf dieses Wort zu konzentrieren, doch es hauchte ganz leise aus der Ferne in mein Ohr. Nur mühsam konnte ich es unter dem Tosen der Wellen vernehmen. "Elena". Mein Name wiederholte sich immer deutlicher. "Elena". Langsam konnte ich mein Gehör auf den Ruf fixieren. Er drang durch das Rauschen hindurch und kam immer näher. "Elena". Schon bald ertönte die Stimme direkt neben mir. "Ele-"

Ich schreckte aus meiner Trance auf. Vor mir auf der Fensterbank bewegte sich etwas ganz langsam auf mich zu. Ich fokussierte meinen Blick von der Eisdiele zurück auf das vorstehende Fensterbrett. Im Schatten der Nacht erkannte ich den Umriss eines rechteckigen Gegenstandes. Es war mein Smartphone, das lautstark vibrierte und immer wieder kurz grell aufleuchtete. Durch die fortschreitend kleinen Bewegungen der Vibration hatte es bald das Ende des kleinen Holzvorstandes erreicht. Noch bevor ich meine Hand ausstrecken und nach ihm greifen konnte, fiel es schon mit einem dumpfen "Plump" auf meine Decke. Natürlich landete es mit dem Rücken nach oben, sodass ich nicht erkennen konnte, welche Nummer auf dem Display angezeigt wurde. Einige Sekunden lag das Handy unberührt da und ich spürte seine abgedämmte Vibration an meinem Fußsohlen. Als ich mich langsam aufrappelte und es in die Hand nahm, verstummte es wieder. Auf dem Display erschien ein Anruf in Abwesenheit.
Ich entsperrte den Bildschirm und tippte auf das kleine Hörersymbol mit dem gezackten Pfeil, um weitere Details des nächtlichen Anrufers ausfindig zu machen. Ein Popup-Fenster öffnete sich und das Bild einer vertrauten Person sprang mir ins Auge. Eine junge, rothaarige Frau mit schulterlangen, verspielten Locken und braunen, glänzenden Rehaugen war auf einem kleinen Bildausschnitt zu sehen. Ihr Gesicht war übersät mit Sommersprossen und sie strahlte das wohl optimistischste und vertrauteste Lächeln aus, was ich bisher gesehen hatte. Ihr Modegeschmack erinnerte stark an die 70er Jahre. Eine ausgefallene Schlaghose, sowie ein geblümtes Oberteil zierten ihren schlanken Körper, den sie vor einem roten VW-Bulli posierte. Ihr Name war Mira Baumann. Sie studierte Psychologie im ersten Semester und ich hatte sie vor ein paar Jahren im Spanischkurs am Gymnasium kennengelernt. Ihre einzigartige und offene Art machten sie nicht um sonst zu meiner besten Freundin. Der einzige Haken war derzeit wohl die große Entfernung, die uns trennte. Aber wie alles im Leben, war eben nichts vorraussehbar.

Ohne weiter lang zu überlegen, startete ich sofort einen Rückruf. Drei Sekunden nachdem ich den Anruf gewählt hatte, meldete sich auch schon ihre erwärmende, sanfte Stimme am anderen Ende zu Wort. „Hey Eli, alles gut bei dir? Du hast seit ein paar Stunden nicht mehr auf meine Nachricht geantwortet." Normalerweise war ich diejenige, die innerhalb von Sekunden antwortete. Es gab für mich nichts Schlimmeres als auf eine Rückmeldung in Brieftauben-Geschwindigkeit zu warten, wo es doch schon das digitale Zeitalter gab. Sogar die tolpatschige Eule von Ronald Weasley aus Harry Potter wäre da wahrscheinlich längst zuverlässiger in der Nachrichtenübermittlung, als so manche Whatsapp-Kontakt heutzutage. Ich atmete einmal tief durch bevor ich antwortete. Aber anstatt einen überzeugenden Satz von mir zu geben, aus dem die Freude auf einen neuen Lebensabschnitt sprudelte, kam nur ein„Ja, schon irgendwie" heraus. Wie erwartet, stieß das natürlich direkt auf Rückfragen. „Schon irgendwie? Was ist wirklich los Eli?", hakte Mira direkt nach. Seufzend versuchte ich mich ihr zu erklären. „Ich weiß noch nicht so recht, was hier auf mich zukommen wird und vielleicht..." Noch bevor ich meinen Satz beenden konnte, wurde ich schon mit besorgten Unterton unterbrochen. „Sieh das als einen Neustart von den Dingen die passiert sind, okay Eli? Du wirst sehen, der Schritt mit dem Umzug und der Ausbildung, wird dir helfen immer mehr loszulassen." Sie wusste genau, dass meine Vergangenheit sehr an mir zerrte und war nicht nur auf psychologischer Basis meine engste Vertraute, sondern auch die einzige, mit der ich mein Leid je geteilt hatte. Nicht einmal meine Eltern kannten den wahren Grund meines Umzuges. Oft hatte ich mich notgedrungen erklären müssen, warum ich denn nicht die selbe Ausbildung in der Heimat machen konnte. Vor allem meiner Mutter fiel es sehr schwer mich gehen zu lassen. Als ihre einzige Tochter, stand ich unter einer meist schon krankhaft klammernden Art der Fürsorge, was auch zum verstärkten Wunsch des Auszuges beigetragen hatte. Ich fühlte mich schon lang nicht mehr wohl in ihrer Nähe. Zum Glück hatte ich zusammen mit meinem Vater, der ohne Ausnahme hinter jeder meiner Entscheidungen stand, schließlich die nötige Überzeugungsarbeit geleistet.

„Eli, noch da?", hörte ich Mira plötzlich wieder durch das Telefon. Es war ein kurzes, nachdenkliches Schweigen eingetreten. „Ja wahrscheinlich hast du Recht", antwortete ich dann. „Ich werde, sobald ich die ersten Semesterferien habe, direkt vor deiner Haustür stehen. Versprochen", erwiderte Mira sofort. Auch wenn dies voraussichtlich noch ein paar Monate dauern würde, zauberte mir ihr Satz ein zaghaftes Lächeln ins Gesicht. Ein erwärmender Funke Hoffnung durchströmte meinen Körper. „Du glaubst gar nicht wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass du für mich da bist Mira", schüttete ich ihr mein Herz aus. Sie gab ein ein schmunzelndes Geräusch von sich. „Jederzeit."
Erneut trat kurze Stille ein, bevor sich wieder jemand zu Wort meldete. „Aber nun erzähl doch mal, was genau dich so lang wachhält. Ist es...naja ist es..." Sie zögerte. Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengrube breit. Ich schluckte und beendete ihren Satz. „Ja es ist...Er."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 18, 2021 ⏰

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