Kapitel 1: Nach dem Hochmut...

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Nick befand sich noch im tiefsten Schlaf, als sein Bett ins Wanken geriet.
Anfangs glich es noch einem sanften Schaukeln. Kaum merklich für jemanden von seinem Schlag. Es war sogar recht angenehm, zauberte ihm ein dümmliches Grinsen in sein Gesicht. Seelenruhig sabberte er vor sich hin, während die Böen ihn von einer Seite zur anderen schaukelten.

Schlagartig kippte das Zimmer in die Seitenlage und katapultierte ihn mit dem Gesicht voran gegen die morsche Holzwand.
Schmerzerfüllt schrie er auf und knallte zu Boden, wo er wie ein Fass über den Boden rollte, als das Schiff sich wieder auszupendeln versuchte.
Aus der Zimmerecke ertönte ein höhnisches Krächzen. Ein großer, bunter Vogel verspotte ihn. "Dummkopf!", schrie er und schlug mit den Flügeln.
"Was ist hier los?!", fragte er verwirrt, als er versuchte sich vom wankenden Boden zu erheben. Wackelig kam er wieder auf die Beine und warf dem Vogel einen scharfen Blick zu. 
"Sprich, Terodon! Was geschieht hier?", verlangte er zu wissen und stemmte die kräftigen Hände in die breiten Hüften.
Terodon lachte krächzend. "Eine Meuterei! Sie wollen den Käpt'n von Bord werfen!"

Nick atmete erleichtert auf. "Meuterei? Gut. Gut, gut.", murmelte er vor sich hin und schlenderte zum Standspiegel in der Ecke des Raumes. Die Möbel in seiner Kajüte waren glücklicherweise alle fixiert. Man fand selten einen so klaren Spiegel, dazu mit so hübschen Ornamenten. Es wäre eine Schande gewesen, wenn er durch eine einfache Turbulenz zu Bruch ginge. 
Er warf einen Blick hinein und betrachtete sich selbst.
Alles was er trug, war eine leicht zerschlissene Unterhose. 
Die verwischte Kohlefarbe hatte sich mit seinen Augenringen vermischt und ließ ihn noch verwahrloster aussehen, als ohnehin schon. Der ungleichmäßig geschnittene Stoppelbart wies einige kahle Stellen auf, die glücklicherweise durch den Dreck in seinem Gesicht kaschiert wurden.
Sein Körper war nicht untrainiert. Er spannte den Bizeps an und grinste selbstzufrieden. Im Gegensatz zu einigen Besatzungsmitgliedern wirke er zwar hager, doch er benötigte keine Muskelkraft. Er besaß etwas wertvolleres. Der Blick wanderte zu seinem rechten Ohrläppchen, an welchem... nichts hing.

Ungläubig tastete er die Stelle ab. Nur das Einstichloch ließ vermuten, wo sich einst sein kostbarster Besitz befand.
Sein Herz begann zu rasen, sein Brustkorb schnürte sich um seine Lungen. Schwer atmend stolperte er zum Bett zurück.
Schließlich realisierte er, was das bedeutete. Er war der Kapitän dieses Schiffs - und er hatte keine Chance.
Es musste hier sein. "Nein!", schrie er vor sich hin, während er Decken und Kissen und Laken vom Bett riss.
"Nein, nein, nein, NEIN!"
Das krächzende Lachen des Raubvogels bohrte sich in seine Ohren.
"Du hast versagt, Nick.", sprach er und ein Krächzlaut folgte. "Sie werden dich aufknöpfen!"

Der dumme Vogel sprach die Wahrheit. Ohne das Artefakt der Macht war er nichts. 
Er würde keinen Atemzug an Deck überleben.
Er setzte sich auf die Bettkannte und rieb sich die Schläfen. Ruhig. Denk nach!
Wo konnte es sein? Das Artefakt bekam keine Beine und verließ ihn einfach. Wo hatte er es gelassen?

An Deck tobte die Meute noch immer. 
Todesgeheul und Kampfesrufe durchschnitten die Luft. Das Schiff taumelte heftig. Wahrscheinlich hatten sie den Steuermann getötet.
Er würde nicht der letzte sein. Als nächstes würden sie ihn holen kommen.
Hektisch kleidete er sich ein. Er zog sich rasch ein dreckiges, weißes Hemd an und warf den dunklen, braunen Kapitänsmantel über seine Schultern , nachdem er in die dunkle Hose gestiegen war. Die Stiefel wurden lose an seinen Füßen festgeschnürt.
Er warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Die kahle Stelle an seinem Ohr würde ihn verraten.
Er zog das Messer aus dem Versteck in seinem Stiefel und schnitt ein großzügiges Stück aus dem Vorhang, welches die Fenster bedeckte.
Mit wenigen Bewegungen band er es sich um wie ein Kopftuch. Die Ohren wurden sorgsam bedeckt, bevor er den Dreispitz auf seinem Kopf platzierte.
Nun war er bereit. Er holte tief Luft. Die Meute rannte gegen seine Tür, rhythmisch eingespielt wie es sich für die Besatzung der Seemöwe gehörte.
Er zählte die Sekunden zwischen den Stößen, wartete seinen Moment ab und öffnete die Tür, bevor die Schultern der Piraten sie berühren konnten.
Schockiert purzelten zwei Taugenichtse in die Kapitänskajüte. 
Sorglos schritt er über ihre Körper, drückte seine Sohlen noch ein wenig fester als nötig in ihre Rücken und betrat das Oberdeck.

Himmelsjäger - Auge des SturmsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt