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Heute geht es los, mein "neues" Leben, wie meine Mutter immer zu sagen pflegt. Sie freut sich wahrscheinlich seit dem Tag meiner Geburt darauf, mich endlich aus dem Haus zu bekommen. Nun gut, man muss ihr auch einräumen, dass sie es mit mir wahrlich nicht leicht hatte. Seit meiner Geburt klebe ich an ihr, wie alter hartnäckiger Kaugummi. Die Wahrheit ist nämlich, dass ich ihr kaum Freiraum gegeben habe, seit sie mich bekommen hat.

Trotz meines stolzen Alters von 17 Jahren, war ich noch nie irgendwo anders, als zu Hause. Ist ja auch kein Wunder, in diesem Kaff gibt es nämlich NICHTS! Meine Hobbys beschränken sich auf alles was man in den eigenen vier Wänden oder in der Gegend tun kann. So liebe ich Bücher, kenne alle Serien auf Netflix auswendig und außerdem laufe ich seit mehr als sechs Jahren täglich eine längere Strecke. Soviel also dazu. Leider ist meine Mutter aber seit einiger Zeit nicht mehr damit einverstanden, dass ich mich zu Hause verschanze und ihr wie sie immer sagt, "weiterhin die Luft zum Atmen nehme". Zu ihrem Leidwesen ging ich bisher auch nicht aus dem Haus, um zur Schule zu kommen, denn ich bekam schon immer Privatunterricht. Und zwar ebenfalls bei mir zu Hause. Ihr seht also, ich bin eine ziemlich normale Jugendliche, die weder soziale Kontakte noch Freunde hat, die ich bisher auch wirklich nicht vermisst habe! Wie ich aber bereits erwähnt habe, ist es damit heute endgültig vorbei. Denn meine Mutter hat entschieden, dass ich ab jetzt keinen Privatunterricht mehr bekomme. Nun sitze ich also hier, in meinem Kinderzimmer, das seit meinem 10. Geburtstag nicht mehr verändert wurde und starre die Koffer an, die mich in mein neues Leben begleiten sollen. "Amelie! Komm ENDLICH runter, du verpasst den BUS!", ruft die Tyrannin, die mich hier nicht mehr haben will. Na als ob mich das stören würde. Ich werde ja schließlich gezwungen das Haus zu verlassen. NEIN, ich werde sogar rausgeschmissen! "JAAAAA, mein Gott, ich komme ja!". Noch einmal schaue ich mich in meinem Zimmer um, nehme meine Koffer, und schlürfe die Treppen runter, als würde mich da unten der Strick erwarten. Was sich ja auch ähnlich anfühlen muss, denn ich spüre bereits jetzt, wie die leichte Panik in mir aufsteigt. "Da bist du ja endlich, komm schon Amelie, zieh nicht so ein Gesicht. Du wirst in wenigen Monaten volljährig sein. Wie lange willst du dich noch vor der Außenwelt verstecken?", meint sie, als ich beim Treppenansatz ankomme. "Ich verstecke mich nicht!", antworte ich ihr dümmlicher Weise. Sie weiß schließlich ganz genau, dass das gelogen ist. Mum reißt also die Tür auf und wartet bis ich mich endlich wieder in Bewegung setze. Ich schaue sie an und hoffe für einen kurzen Moment, dass sie es sich doch anders überlegt und mich nicht in dieses dumme Internat steckt, in dem ich mir ein Zimmer mit einer völlig fremden Person teilen muss. Was ja noch nicht mal das Schlimmste ist! NEIN, ich soll dort mit 20 anderen Jugendlichen in einem Klassenraum lernen und von der Cafeteria möchte ich erst gar nicht anfangen. Aber all meine Hoffnungen verflüchtigen sich, als sie mich durch die Tür rausschiebt. Aus dem Haus draußen schnappt sie meinen Koffer und geht bereits auf den Bus zu, welcher am Ende unserer Nachbarschaft zum Stehen kommt. "Mein Schatz, du schaffst das. Ich weiß es und ich bin mir sicher, dass du mir bald dafür danken wirst, dass ich dich nun dazu zwinge!", meint sie und übergibt meinen Koffer dem Fahrer des Busses. „NIE, werde ich dir dafür auch noch DANKBAR sein!!", werfe ich ihr an den Kopf, aber sie strahlt mich nur an. "Mach es gut mein Liebling. Ich komme dich in den Herbstferien besuchen", sagt sie noch, gibt mir einen Kuss auf die Wange, dreht sich um und geht. Ich starre ihr wütend hinterher, völlig unfähig mich vom Fleck zu rühren. Plötzlich höre ich ein Räuspern. "Mädchen, du musst jetzt einsteigen! Ich muss meinen Zeitplan einhalten und wir haben noch einen weiten Weg und viele Haltestellen vor uns, bis wir beim Internat ankommen!", sagt der Busfahrer und steigt ein. Ich starre noch immer in die Richtung, in die meine Mutter verschwunden ist. Als der Motor des Busses gestartet wird, drehe ich mich schweren Herzens um und steige in den Bus ein, der mich in mein Verderben führen wird. OK, ja das klingt etwas melodramatisch, aber so fühle ich mich nun mal wirklich. Momentan scheine ich wenigstens noch der einzige Fahrgast zu sein, was ja auch kein Wunder ist. Ich wohne oder vielmehr WOHNTE in einem knapp 50-Seelen-Dorf in Schwerbach. Neben meiner eigenen Familie, die quasi die ganze Nachbarschaft besiedelt, gibt es nur acht weitere Familien im näheren Umfeld. Kinder und Jugendliche sind demnach Mangelware. Was mich auch bisher noch nie gestört hat. Ich setze mich nun auf einen Fensterplatz, in dem mir verhassten Bus und lege meinen Rucksack auf den Sitz daneben, damit sich bei der nächsten Haltestelle bloß niemand neben mich setzt! Der Bus setzt sich in Bewegung und schnell stecke ich mir meine Ohrstöpsel in die Ohren und mache die Augen zu, um die Realität wenigstens für kurze Zeit auszusperren. Als ich das nächste Mal die Augen öffne, sind nur drei weitere Jugendliche zugestiegen. Zwei Jungs, die anscheinend zwei oder drei Jahre älter sind als ich selbst und ein Mädchen, das mich nicht wirklich freundlich anglotzt. Als wäre ich ein Alien. Sie dürfte etwa in meinem Alter sein. Ich schaue an mir herunter. Mein dunkelbraunes ellbogenlanges Haar, das sich ständig wellt, habe ich zu einem losen Zopf gebunden. Ich trage heute mein Alltagsoutfit. Also im Grunde das, was ich immer trage: schwarze Sneakers, schwarze Röhrenjeans und ein schwarzes Trägertop. Wie ihr bestimmt schon ahnt, meine Lieblings-"nicht"-Farbe ist eben diese, welche quasi immer an mir zu sehen ist. Das einzig Auffällige an mir sind meine sehr blauen Augen, welche meine Mutter immer als "Ozean im Pazifik" bezeichnet. Nun schaue ich wieder zu dem Mädchen. Sie sagt irgendwas, aber durch meine Ohrstöpsel und der lauten Musik, die ich damit höre, kann ich sie nicht verstehen. Also nehme ich einen der Stöpsel raus und frage sie mit aller Höflichkeit, die ich aufbringen kann: "Entschuldige, was hast du gesagt? Ich konnte dich eben nicht hören!" Sie starrt mich weiter böse an und schnauzt mich schließlich mit: "Ich habe gesagt, dass du aufhören sollst, mich so bescheuert anzuglotzen!!!!", an. Ich verdrehe die Augen, stecke meinen Ohrstöpsel wieder ins Ohr und ignoriere die dumme Ziege. Als ob ich sie angeglotzt hätte. Dazu gab es nun wirklich keinen Grund. Die Ziege hat kurze blonde Haare, dazu grüne Augen, die sie ziemlich stark geschminkt hat und trägt zerrissene Jeans mit einem Shirt, das aussieht, als wäre es ihr zwei Größen zu groß. Also schließe ich wieder die Augen und überlege gerade wie lange wir nun schon unterwegs sind. Ich blicke auf mein Handy, welches verrät das es inzwischen gut 1,5 Stunden sind. Meine Mutter sagte, dass die Anfahrt etwa 2,5 Stunden dauern würde. In mir steigt die Hoffnung, dass der Bus bis zum Schluss so leer bleiben wird, wie er es im Moment ist. Diese Erwartung wird aber schon nach weiteren 15 Minuten zerstört, denn an der nächsten Haltestelle warten bereits mindestens zehn Schülerinnen und Schüler auf den Bus. Seufzend lehne ich mich immer tiefer in meinen Sitzplatz. Leider ist der Bus nicht besonders groß und so kommt es, dass im nächsten Moment auch schon ein großer Kerl vor mir steht und mit dem Finger auf den Sitzplatz zeigt, auf welchem es sich mein Rucksack bequem gemacht hat. Nochmals seufzend nehme ich meinen Rucksack und warte bis der Typ sich hinsetzt. Er strahlt mich an und entblößt kerzengerade glänzend weiße Zähne. Naja. Wenigstens wird er keinen Mundgeruch haben, denke ich, als er mich auch schon anspricht: "Hallo! Ich heiße David und du?" Ich drehe mich leicht zu ihm und schaue ihn mir genauer an. Blonde Haare, die ihm wirr vom Kopf abstehen, als wäre er gerade gerannt und blaue Augen, in einem ziemlich hübschen Gesicht. Ich zucke mit der Schulter und drehe mich wieder weg. An Gespräche mit Wildfremden in einem Bus, in dem ich nicht sein will, auf dem Weg zu einem Internat, zu dem ich nicht fahren will, bin ich nun wirklich nicht interessiert. Der Typ, der sich David nannte, versteht scheinbar den Wink nicht und meint weiter quatschen zu müssen, auch wenn ich ihm nicht antworte. "Alsooo... kommst du neu aufs Internat? Ich kann mich nicht erinnern dich schon einmal gesehen zu haben. Und du bist schon ziemlich auffällig", sülzt er dahin. Nun drehe ich mich doch wieder zu ihm, denn mir wird bewusst, dass er wahrscheinlich nicht aufhört zu reden, wenn ich ihm nicht antworte. "Ähm, ja ich bin neu." Mehr bringe ich nicht raus. Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. "Ah, du kannst also doch sprechen! Schön! Und wie heißt du nun?" Wieso kann er nicht einfach still sein, denke ich, sage aber: "Ach so ja... ich heiße Amelie" Nun grinst er wieder. "Bist du nervös? Oder redest du sowieso generell eher weniger?", fragt er überflüssigerweise, denn er hat wahrscheinlich schon bemerkt, dass beides der Fall ist. "Ja zu beidem", sage ich weiterhin wortkarg. Langsam denkt er wahrscheinlich eher, dass ich dumm bin. Sein Grinsen wird immer breiter, als würde es ihm Freude bereiten mich zu quälen. "OK, das brauchst du aber gar nicht zu sein. Das Internat ist echt klasse und es macht wirklich Spaß dort! Vor allem die Partys sind der Hammer!", meint er weiter. Ich schüttle den Kopf und schaue aus dem Fenster. Wieder hält der Bus und weitere zwei Schüler steigen ein. "Noch etwa fünf Minuten, dann sind wir da", murmelt David inzwischen neben mir. Als der Bus hält und die Türen aufgehen, bleibt David noch kurz sitzen, bis der größte Andrang ausgestiegen ist und versperrt mir somit ebenfalls den Weg nach draußen. Als nur noch er und ich im Bus sind, räuspere ich mich. David steht auf und bedeutet mir, ihm voraus zu gehen. Na toll, denke ich und schnappe mir meinen Rucksack. Draußen angekommen schaue ich mich mit großen Augen um. Auf dem Vorplatz des Internats stehen haufenweise Jugendliche unterschiedlichen Alters. Das müssen mindestens hundertfünfzig Menschen sein, denke ich gerade, als mir jemand auf die Schulter klopft. Ich schrecke zusammen und drehe mich zu dem Übeltäter um. Es ist David. Noch immer grinst er und zeigt gleichzeitig zum Bus, wo der Fahrer bereits meinen Koffer abgestellt hat. Ich gehe schnell rüber und ziehe ihn mit viel Mühe hinter mir her. Schnell ist David wieder an meiner Seite. "Komm, ich helfe dir und zeige dir, wo du hinmusst, ja?" Ich neige leicht den Kopf. Eigentlich ist er sehr freundlich und ich kann wirklich Hilfe gebrauchen. "OK, das ist lieb, danke!" Nun starrt er mich an. "WOW, das waren mehr als drei Wörter in einem Satz, wir machen Fortschritte!" Ich lächle, denn ich weiß, dass ich jetzt nur das falsche sagen kann. David schnappt sich sogleich meinen Koffer und geht auf die riesige "Burg" zu, die ab jetzt mein Zuhause sein soll. "Also, Amelie, du wirst sehen, hier ist es nicht so schlimm, wie du vielleicht gerade denkst", sagt David, welcher anscheinend meine Panik bemerkt. Ich stolpere weiter hinter ihm her, bis wir vor dem großen Tor stehen, auf welchem in großen Buchstaben

ST. CLAUD

INTERNAT FÜR JUNGEN UND MÄDCHEN

steht.

Neben dem Eingang hängt eine Tafel, auf der die "INTERNATSREGELN" aufgelistet sind. Da die Schrift allerdings schon ziemlich verblasst ist, kann ich auch nicht mehr erkennen. "Die Schulregeln sind im Inneren auch überall ausgehängt. Du musst das hier also nicht entschlüsseln", schreckt mich David gerade aus meinen Gedanken hoch. Ich nicke und folge ihm in das Innere des Internats. Gleich nachdem wir die Tore hinter uns gelassen haben, wende ich mich schnell an David: "Könntest du mich bitte direkt zu meinem Zimmer begleiten, bitte ja?" Verstehend nickt nun auch David und geht schnellen Schrittes auf die Stufen in die oberen Stockwerke zu. Als wir im zweiten Stock angelangt sind, dreht sich David allerdings wieder zu mir um. "Hier in diesem Stock ist der Mädchentrakt und im dritten Stock sind wir Jungs untergebracht. Welche Zimmernummer hast du?" Ich krame in meinem Rucksack und ziehe einen Schlüsselbund hervor, an dem ein großer Schlüssel und eine Türnummer hängen. Ich schaue wieder David an. "Hier steht Tür Nummer 13." Er dreht sich in Richtung des Ganges zu meiner Rechten und geht los. Ich folge ihm wieder auf dem Fuße und nach nur wenigen Schritten stehen wir vor einer Tür mit der Nummer 13. "Hier ist es, ich lasse dich jetzt alleine, ja? Mein Zimmer ist, wie gesagt, im dritten Stock, Nummer 39, falls du mich suchen solltest", sagt er und grinst mich an, als würden wir uns schon Jahre kennen. Wieder bringe ich nur ein Nicken zustande, was er kommentarlos hinnimmt. Er dreht sich um und ist auch schon den Gang zurück Richtung Treppe gehuscht. Mit klopfendem Herzen stehe ich also an der Tür mit der Nummer 13. „Na toll, eine wahre Glückszahl, oder?" Ich stecke den Schlüssel in das Schloss und öffne vorsichtig die Tür.

Right One [Bd.1] [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt