2. Familie Liliental

579 27 1
                                    

Sie kamen rechtzeitig an einem kleinen Hof an. Er bestand aus einem zweistöckigen Wohngebäude, einem kleinen Stall, in dem offenbar Kühe gehalten wurden und einem separaten Heustadel.

Vor der Tür zum Haus stand eine ältere Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Arm.
Lore hielt an und stieg schwerfällig vom Wagen. Erst jetzt konnte Mick erkennen, dass sie schwanger war.
Er blieb auf dem Wagen sitzen und wartete, als sie die alte Frau begrüßte und ihr das Kleinkind abnahm.
An den aufgeregten Gesten der Älteren vermutete er, dass sie nicht allzu angetan war davon, dass Lore ihn hierher gebracht hatte.
Doch sie schien sich darüber hinwegzusetzen.
Sie kam, den Jungen noch immer am Arm zu ihm zurück und bat ihn, abzusteigen.

"Wenn Sie möchten, kann ich den Wagen in den Stall bringen." bot er an.
Sie besah ihn zweifelnd. Er wusste, was für einen Eindruck er auf sie machen musste, im feinen englischen Anzug, italienischen Schuhen, Seidenhemd und Hut. Schließlich nickte sie. "Danke. Im Haus wartet ein Abendessen, falls Sie wollen." Dann folgte sie der alten Frau ins Haus.

Mick brachte den Wagen in den Stall und versorgte das Zugpferd. Mittlerweile hatte es angefangen, zu regnen und er rannte über den schlammigen Hof zum Wohnhaus und trat ein.
"Ziehen Sie sich die Schuhe aus!" hörte er eine schroffe Stimme, die wohl der zweiten Frau gehörte.
Ohne Schuhe betrat er die Küche.
Am Tisch saß die Ältere, Lore war nirgends zu sehen.

"Bitte." Sie bedeutete ihm, sich zu setzen. Er ging um den Tisch herum und streckte ihr seine Hand entgegen. "Darf ich mich vorstellen: Mick." Mit einem misstrauischen Blick ergriff sie sie. "Rona Liliental."

Er setzte sich zu ihrer Rechten. Während er aß, starrte Rona ihn über ihre Brille hinweg an. "Und was verschlägt den Herrn ohne Nachnamen hierher?"
Mick setzte den Löffel ab und sah sie nachdenklich an. Er konnte ihre Ablehnung ihm gegenüber spüren.
"Mein Automobil hatte eine Panne. Ein Glück, dass Ihre Tochter-" - "Schwiegertochter." unterbrach Rona ihn. "Falls sie also geglaubt haben, sie hätten es hier nur mit zwei schwachen Frauen zu tun, haben sie sich geschnitten." blaffte sie ihn an.

Das war Mick zu viel. "Was denken Sie denn von mir? Dass ich Sie hier ausrauben will?"
"Woher soll ich das wissen? Meine gutgläubige Schwiegertochter kommt doch von selbst nicht auf solche Gedanken."
"Rona, das reicht!" Lore war hinter ihnen die Treppe herabgekommen. Und etwas freundlicher sagte sie: "Argos wartet noch auf seine Gute-Nacht-Geschichte."

Mit einem Seufzer und einem letzten misstrauischen Blick auf Mick stand Rona auf und ging nach oben. Als sie an Lore vorbeiging flüsterten sich die beiden Frauen etwas zu. Mick konnte nicht verstehen, was, doch dass die Worte besorgt klangen.

Als Rona gegangen war, setzte sich die junge Frau zu ihm. "Es sieht nicht so aus, als ob der Sturm heute noch nachlässt. Ich habe ihnen ein Zimmer gerichtet, ich hoffe das ist Ihnen recht."
Mick bedankte sich und sie fuhr fort. "Ich muss mich für Rona entschuldigen. Sie sieht es als ihre Verantwortung, sich um Argos und mich zu kümmern, seit.." Lore verstummte.
Er wartete geduldig, bis sie weitersprach.
"Meinem Mann, Richard, geht es sehr schlecht." Wieder stockte ihre Stimme. Dann schüttelte sie ihren Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. "Entschuldigen Sie bitte."

Mick tat die junge Frau leid. "Das mach doch nichts." Er überlegte kurz, ob er ihr vielleicht helfen konnte und fuhr dann fort. "Zufälligerweise bin ich Arzt..." Lore hob erstaunt den Kopf.
"Feldarzt." sagte Mick entschuldigend. Er wollte es mit seiner Lüge nicht gleich übertreiben. "Wenn Sie erlauben, kann ich mal nach Ihrem Mann sehen."

Lores Gesicht nahm einen hoffnungsvollen Ausdruck an. Sie standen auf und sie führte ihn nach oben in ihr Schlafzimmer. Rona legte gerade ein Räucherbündel in eine Schale und sah beide grimmig an. "Schon gut, Rona, Mick ist Arzt und möchte nach Richard sehen."
Die Ältere schnaubte ungläubig, machte jedoch Platz.

Im Bett lag Lores Mann mit geöffneten Augen, doch schien er seine Anwesenheit kaum wahrzunehmen.
Als Mick sich neben ihn setzte, begann Richard, laut zu husten.
Er legte ihm die Hand an die Stirn und schloss die Augen.
Er konzentrierte sich auf Richard und suchte im Geiste nach der Ursache seiner Krankheit.
Entfernt konnte er Ronas abfällige Worte hören. "Ein Quacksalber ist das, sonst nichts." Aber er beachtete sie nicht weiter.
Er hatte von Anfang an richtig vermutet. Das zerstörte Lungengewebe konnte nur Tuberkulose bedeuten. Und einen langsamen, schmerzhaften Tod.

Mick öffnete die Augen wieder und sah die beiden Frauen an. Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein - schon gar nicht die schwangere Lore. Die Ansteckungsgefahr war einfach zu hoch. Doch was hätten sie sonst tun können? Irgendjemand musste sich doch um den Kranken kümmern.
Plötzlich spürte er einen festen Griff nach seiner Hand. Richard starrte ihm direkt in die Augen. "Du bist kein Mensch." krächzte er. Mick wich erschrocken zurück. "Bist du gekommen, um mich zu holen?"

Lore kam auf die beiden zu. "Schatz, beruhige dich.." Doch Richard begann sich zu wehren. "Ich lasse nicht zu, dass du mich mitnimmst! Hau ab!" Dieser Ausbruch endete in einem heftigen Husten und das Tuch, das ihm Lore vor den Mund hielt, färbte sich blutrot.

Mick trat ein paar Schritte zurück. "Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass er sich so aufregt." Rona schob ihn aus dem Raum und folgte ihm nach unten.
In der Küche goss sie sich beiden einen Becher Wein ein.
Er merkte, dass sie ihn noch immer argwöhnisch beobachtete. "Sie brauchen mir gar nicht erst zu sagen, dass mein Sohn sterben wird", stieß sie schließlich hervor. Mick konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören.

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Doch Rona sprach weiter.  "Was sollen Lore und die Kinder machen, wenn sie irgendwann ganz allein sind?" Sie setzte sich hin und brach in Tränen aus. "Sie haben doch sonst keine Familie."
Mick hockte sich vor sie hin und strich ihr sanft über die Schultern. "Vielleicht wendet sich doch noch alles zum Guten", versuchte er es, auch wenn er selber nicht wusste, wie.

---
Wenn dir dieses Kapitel gefallen hat, dann vote doch bitte mit einem ☆ für mich :-)

✓ Ein zweites Leben // Armans GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt