Kapitel 3

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Vor mir erstreckte sich blau glitzernd ein kleiner See. Wir standen auf einem steinernen Hügel und schauten von oben auf den See hinab. Die untergehende Sonne glitzerte leicht auf der blauen Oberfläche. Ich war so gefesselt von dem Anblick, dass ich im ersten Moment nicht bemerkt hatte, wie der Wolf sich einen Weg nach unten zum Wasser bahnte. Doch als ich das bemerkte, beeilte ich mich, hinterher zu kommen. Der Wolf humpelte langsam zum Wasser, bis er zu den Knöcheln drin stand. Was dann auch schon ziemlich weit drin war. So tief schien der See also nicht zu sein. Das blaue Nass war eingekreist von einer Steinwand, von der wir gekommen waren, und lag auf einer kleineren Lichtung. Es hatte etwas Magisches an sich. Ich ließ mich an dem Rand des Sees nieder und beobachtete nachdenklich den Wolf im Wasser. Es schien, als würde er das Blut abwaschen und seine verletzte Pfote kühlen wollen. Beides kam mir untypisch für einen Wolf vor, aber so war es nun mal. In der Ferne hörte ich ein erneutes Heulen. Der Wolf im Wasser hob den Kopf und steckte seine Schnauze in die Luft. Kurz darauf wanderte sein Blick zu mir.

„Geh schon, dein Rudel ruft dich. Ich bin es gewohnt allein zu sein", seufzte ich.

Der Körper des Wolfes setzte sich in Bewegung und kam auf mich zu. Das Laufen schien ihm schon viel besser zu gelingen. Er trottete auf mich zu und dann an mir vorbei. Ich schaute über die Schulter zu ihm. Er schaute mich wieder auffordernd an. Also rappelte ich mich auf und lief neben ihm her. Er führte mich zielsicher durch die Bäume. Die Frage, wohin er mich wohl führte, war allgegenwärtig in meinem Kopf. Und doch folgte ich ihm stumm. Wir liefen nicht lang, vielleicht zehn Minuten bis sich der Wald lichtete und ich erkannte, dass wir auf den Waldrand zusteuerten. Kurz darauf traf ich die Abendsonne des Tages an. Ich schaute mich um und versuchte, mich zu orientieren. Ich stand auf genau der Lavendelwiese, bei der ich gestartet war. Nur ein paar Meter weiter rechts von mir war ich in den Wald gerannt, um nach dem Wolf zu suchen. Ich drehte mich zu dem Wolf um, welcher noch im sicheren Schatten des Waldes stand. Ich machte den Schritt auf ihn zu. Frontal vor ihm zu stehen, zeigte mir nun nochmal richtig, wie groß er war. Ich hatte gut geschätzt. Sein Rücken ging mir bis zur Hüfte und sein Kopf war zwischen meinem Kinn und meiner Nase.

„Vielen Dank. Auf Wiedersehen. Vielleicht unter besseren Umständen das nächste Mal", verabschiedete ich mich.

Leicht hob ich meine Hand und streckte sie vorsichtig in Richtung Wolf. Sanft langen meine Finger auf dem braunen Fell. Ich erlaubte mir einmal durch zu fahren, dann nahm ich meine Hand von seinem Kopf.

„Bis dann", flüsterte ich.

Er atmete einmal stark aus, was ich als Zustimmung wertete. Dann drehte ich mich um und lief über die Wiese in Richtung unseres Hauses. Kurz bevor ich den Waldrand völlig aus dem Blick verlor, drehte ich mich nochmal um und schaute zurück. Ich sah nur noch einen dunklen Fleck im Wald verschwinden.

Meine Begegnung mit dem Wolf ging mir den ganzen restlichen Abend und auch den nächsten Tag lang nicht aus dem Kopf. Ich hatte sogar von ihm geträumt. Die Schule zog an mir vorbei, ohne dass ich davon wirklich etwas mitbekam. Ich wollte den Wolf unbedingt wieder sehen. Im ersten Moment erschreckte mich dieser Gedanke. Doch ich fühlte mich seltsam hingezogen zu diesem Wolf. Und so kam es, dass ich nach der Schule den Weg in den Wald suchte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie genau der Weg gewesen war und bahnte mir zwischen den Bäumen meinen Weg. Und dann sah ich sie. Still und verlassen lag sie da, die kleine Lichtung. Und auf ihr der kleine See, der heute noch blauer zu sein schien als gestern. Ich lies meine Tasche in den Kies fallen und schritt auf das Wasser zu. Mit den Füßen im Wasser setzte ich mich auf einen Stein am Rand und legte mein Kinn auf die überkreuzten Arme. Ich seufzte einmal auf und durchbrach so die Stille des Waldes.

„Ich wünschte, ich wäre nicht mehr allein. Ich will auch jemanden haben, an den ich mich kuscheln kann. Der mich in den Arm nimmt und mich küsst. Ich würde so gerne einen Freund haben, aber anscheinend will mich keiner", klagte ich dem ruhigen Ort mein Leid.

Ich hatte nicht bemerkt, wie mir eine Träne die Wange runter rollte. Erst als sie mich am Kinn kitzelte, wusch ich sie weg. Sie tropfte in den See. Auf einmal wurde das Wasser um meine Füße richtig warm. So als hätte jemand heißes Wasser hinzugeschüttet, welches sich jetzt verteilte. Ich zog meine Füße zu mir hoch und beobachtete das Wasser.

Ein knacken ließ mich meinen Blick abwenden. Meine Augen fuhren die Steinwand vor mir ab und oben erblickte ich einen dunkelbraunen Wolf. Ich erkannte ihn sofort wieder. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

„Du bist wieder gekommen", rief ich ihm zu.

Er ließ sich oben auf den Steinen nieder und legte seinen großen Kopf auf seine Pfoten. Er schien mich zu beobachten. Irgendwie wünschte ich mir, dass er näher kommen würde, aber ich gab mich schlussendlich doch damit zufrieden, dass er überhaupt da war. Da mein Sitzplatz unbequem wurde, stand ich auf und setzte mich auf den Boden, an den Stein gelehnt. Aus meiner Tasche zog ich meinen Skizzenblock heraus, den ich für Kunst heute in der Schule dabei gehabt hatte. Ich zückte meinen Bleistift und fing an, die Szene einzufangen. Strich um Strich gesellte sich auf das Blatt und immer mehr Konturen entstanden. Irgendwann riss mich mein Handy aus dem Zeichnen. Ich hatte eine Nachricht von meiner Mum. Sie wollte wissen, wo ich war und wann ich Heim kommen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es schon reichlich spät war und immerhin musste ich noch nach Hause laufen. Ich schrieb ihr, dass ich bald heim käme und packte meine Sachen in die Tasche. Sobald ich mich aufrichtete, stand auch der Wolf auf.

„Ich muss gehen. Danke, dass du hier warst. Bis morgen", verabschiedete ich mich.

Von diesem Tag an verbrachte ich die Nachmittagsstunden täglich im Wald am See und zeichnete an meinem Bild. Und mein tierischer Begleiter - den ich nun auch wirklich so nennen konnte, da er immer oben auf dem Fels lag - wachte über mich. Und seit langer Zeit fühlte ich mich nicht mehr allein. So gingen die Tage in Wochen über und die Wochen in Monate. Aus dem Sommer wurde Herbst. Die Blätter färbten sich rot und gelb und lagen nun wie ein bunter Teppich zu meinen Füßen, wenn ich meinen Weg durch den Wald schritt.

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