Das magische Band

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von Konstantin und Dominica Schemat 2017-2019


Seepferdchens großer Bruder

Das Schwingseil baumelt träge in der Abendluft, die salzig und lau von den Schaumkronen des Aussenriffs zum Strand geweht wird. Heidi erinnert sich nicht mehr daran, wann sie das letzte Mal mit ihrem richtigen Namen angesprochen wurde, dabei kann es so lange auch nicht her sein, denn sie ist erst im Mai 11 geworden. Sie weiss gar nicht, was sie machen würde, wenn jemand ihren Namen riefe, darüber hat sie an ihrem Geburtstag nachgedacht, ob ein Mädchen, was nicht so braun ist wie sie, mit blonden Haaren vielleicht und Zöpfen, hervorkommen würde, wenn jemand diesen fremden Namen rufen würde: Heidi! Und dann, wenn das geschehen würde, dann würden alle sagen, alle die sie kennt: Da bist Du ja, wir hatten dich total vergessen. Jetzt ist aus Heidi Huihu u, das Seepferdchen, geworden, oder manchmal nur Hui, eine Abkürzung, die sie wirklich bescheuert findet. Langsam geht sie über den sandigen Boden, zu der Kokospalme mit dem endlosen Seil, an dem ein Stock hängt, den sie mit ihren Kniekehlen schon ganz glatt poliert hat. Im natürlichen Habitat der Heidis, auf der anderen Seite der Erde würde man sagen: Das ist echt eine voll krasse Schaukel. Seepferdchen liebt es, die Welt auf dem Kopf zu sehen. Ihr großer Bruder mag das nicht. Warum hat er ihr noch nicht gesagt. Aber das kann noch werden, vielleicht fragt sie ihn heute einmal danach, auch wenn sie weiss, dass er das hasst, wenn er bei ernsten Dingen, wie der Reparatur der Harpune gestört wird. Besonders wenn die Harpune nicht gerade reparaturbedürftig aussieht und er mit ihr, die Schattenhaie im Kokoshain jagt. An der grossen Palme angekommen, springt sie lässig in die Luft, bekommt den Stock gerade noch zu fassen und hangelt sich geschickt hoch, um dann Schwung zu holen und eine Handbreite an seiner Harpune vorbeizuschwingen.

Das hat schon mal nicht funktioniert, denn Aniani blickt noch nicht mal auf, nimmt nur die Harpune aus der Reichweite der Schwungbahn ihrer Schaukel und lässt sich überhaupt nicht stören; cool ist er schon irgendwie.

Aber so schnell gibt Seepferdchen nicht auf, denn sie weiss, wie sie ihren Bruder zum Sprechen bekommt. Namen, das findet er spannend, auch wenn sie schon so oft darüber gesprochen haben. Denn der Name, unter dem sie hier alle kennen, den hat ihr der große Bruder gegeben, und den trägt Seepferdchen mit Ehre. Obwohl sie sich auch in letzter Zeit für Heidis Heimat interessiert, und wie lange es wohl dauert, bis die Wellen das Hochgebirge erreicht haben. Seepferdchen durchdenkt diese Namenssache, und dass Aniani Spiegel heisst, aber das ist ihr jetzt zu langweilig darüber zu sprechen. Wie oft hat sie ihn schon etwas mit Spiegeln gefragt, z.B. was aus dem Wasserspiegel wird, wenn der Wind kommt. Das ist doch mal eine schöne Frage. Seepferdchen hat das Gefühl, dass ihr großer Bruder von ihr geradezu mit Fragen verwöhnt wird. Und weil er das wirklich nicht zu schätzen weiss, fängt sie diesmal das Gespräch mit etwas an, was ihn noch brennender interessiert, als Namen: Bartwuchs.

Und irgendwie hat das ihr Bruder mitbekommen, als könnte er ihre Gedanken lesen, jedenfalls wenn es um so wichtige Dinge wie Bartwuchs geht, Aniani blickt auf und sagt: Was ist?

Seepferdchen hat den optimalen Satz gefunden, da muss ihr Bruder anbeissen, ein Satz indem es um seinen Namen (Aniani, der Spiegel) geht und Bartwuchs gleichzeitig: Hast Du Dir mal deinen Bart im Spiegel angesehen?

Aniani schüttelt nur den Kopf.

Seepferdchen denkt sich: „Man ist das schwer" laut sagt sie: Darf ich dich mal rasieren?

Aniani: Das machen wir Jungs alleine.

Seepferdchen: Aber wenigstens das eine lange Haar da auf dem Lebefleck, darf ich es abschneiden?

Aniani: Aber warum denn, das ist die Insel des Bartes, das ist Naturschutzgebiet Seepferdchen, da darfst Du gar nichts abschneiden.

Seepferdchen: Oh doch, es ist ein sehr hässliches Naturschutzgebiet.

Das magische BandWhere stories live. Discover now