Second Chapter - 9.6.19

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In seinen Augen lag etwas Wildes, und wenn ich bei Verstand gewesen wäre, hätte ich es wohl als Überlebenswillen bezeichnet, doch in diesem einen Augeblick wollte ich nur meine eigene Haut möglichst unbeschadet in mein Schlafzimmer schaffen. ,,Was machst du hier?", schrie er mir entgegen. Ich schüttelte nur den Kopf, als Zeichen, dass ich nichts sagen würde. Es war ein Wunder, dass ich überhaupt etwas sehen konnte.

,,Komm mit", brüllte er mir wieder entgegen und nahm meine Hand. Ich wusste nicht warum, aber diese simple Berührung, diese kleine Geste der Sicherheit hatte für mich alle Kälte, Schmerz und Unsicherheit weggezaubert, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. In diesem Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich geborgen.

Gemeinsam kämpften wir uns den Weg hoch, im Laufe der Zeit drückte er meine Hand fester, da sie durch die Nässe abzurutschen drohte. Plötzlich glitt der Boden unter mir weg. ,,Au!", schrie ich, als ich mit dem Gesicht und Bauch voran auf dem Steinweg landete. Mein Fuß war umgeknickt, denn als ich unter seinen erwartenden Blicken und seiner ausgestreckten Hand versuchte aufzustehen, knickte ich zur Seite weg und landete mit einem Aufschrei wieder auf der Erde.

Kurz sah ich wie er inne hielt und zu überlegen schien, als er sich hinter mich stellte und an meinen Rücken griff und unter meine Knie. Eine Sekunde später fand ich mich selbst verwirrt an seiner zwar durchnässten, aber starken Brust wieder. Er trug mich. Er trug mich. Er trug mich!

In diesem Moment war mir das Ausmaß der schon fast befremdlichen Situation nicht bewusst. Meine Bücher klammerte ich immernoch fest an mich, während ich mich mit meiner anderen Hand an seinem Nacken festkrallte. Der Wind und der Regen waren immernoch wahnsinnig laut, ich hatte fast den Eindruck die beiden versuchten sich gegenseitig zu übertrumpfen.

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich in wenigen Minuten in einer schönen, warmen Badewanne liegen würde.

Das große, im Gewitter unheimlich dunkel gefärbte Internatsgebäude rückte näher, doch als ich genauer hinsah erkannte ich, dass die Türen geschlossen waren und damit sank auch meine Chance auf eine warme Badewanne. Im ersten Moment hoffte ich, dass sie geschlossen waren des Regens wegen, doch als wir davor standen, nur minimal vor dem Zorn des Wetters geschützt durch einen kleinen Vorsprung über uns, stellte sich verzweifeltes Rütteln und Klopfen nicht als Möglichkeit heraus, hinein zu kommen.

,,Scheiße", schrie er. Ich befand mich immernoch in seinen Armen wie ein zusammengerolltes Igeljunges. Er schien kurz nachzudenken. Als ich hochsah, erkannte ich, dass das Regenwasser ihm in Bächen über das Gesicht rannte und seine langen Wimpern einen Teil davon auffingen. Er blinzelte schnell, um nichts von der Flüssigkeit in seine Augen zu bekommen. Seine Haare waren unter einer Kapuze verborgen.

,,Scheiße!", hörte ich ihn wieder fluchen, doch auf einmal rannte er los. Als ich die Augen zusammenkniff, um mehr zu erkennen, bemerkte ich, dass er in Richtung des Gewächshauses rannte, das sich neben dem Gebäude befand und in dem immer alle Arten von Strafarbeiten ausgeführt wurden.

Als er kurz davor stand, ließ er mich runter und ich wäre nochmal weggeknickt, wenn nicht neben mir eine gläserne Wand gewesen wäre, an die ich mit mehr oder weniger Wucht knallte.

Nach einer Weile, in der das Wetter uns immernoch zu maßgebender Eile zwang, hatte er die Tür geöffnet und ich stellte mir erst gar nicht die Frage, wie.

Als die Tür hinter uns zufiel und ich halb gebückt stand und mir jeder andere Ort lieber gewesen wäre als dieses Gewächshaus, hörte ich seinen hektischen Atem. Er zog seine Kapuze ab und darunter kamen seine leicht feuchten Haare zum Vorschein, die nun leicht gelockt in alle Richtungen abstanden. Das sieht verdammt sexy aus, dachte ich. Ein stechender Schmerz kroch von meinem Knöchel langsam in meine Waden.

Mein Nest aus Haaren waren unterwegs in sich zusammengefallen, den vorhin darin versenkten Haargummi konnte ich sowieso nirgends finden und einzelne, dickere, tropfend nasse Strähnen hingen mir wie Lianen seitlich neben dem Gesicht. Scheiße, ich muss aussehen wie ein Monster, dachte ich, nahm aber im selben Moment den Gedanken zurück. Ist doch egal, hauptsache du lebst!

,,Oh mein Gott", dachte ich laut und er schaute auf. ,, Was ist?", sagte er schnell. ,,Ich lebe", flüsterte ich mehr zu mir selbst. Ich hörte ihn leise auflachen. ,,Reed, wieso zur Hölle warst du bei diesem Wetter unten am Meer?", fragte er sofort, hörte auf zu Grinsen und verschränkte die Arme, nachdem er sich durch die Haare gefahren war. Mein rasendes Herz setzte seinen Marathon noch schneller fort.

,,Ich.. äh", began ich, ,,Ich wollte lernen und bin offenbar dabei eingeschlafen. Und ich heiße Caitlin." ,,Mh", machte er. ,,Und du?", setzte ich mutig hinterher. ,,Das ist nicht wichtig", antwortete er leicht bissig, ,,was machen wir jetzt?"

Ich schaute auf meine Uhr am Handgelenk. Es war halb neun. ,,Hast du ein Handy dabei?", fragte ich ihn mit dem Hintergrundwissen, dass ich meines immer in meinem Zimmer hatte, um die Athmosphäre des Meeres zu geniesen. Er schüttelte den Kopf. ,,Ich auch nicht", gab ich zu. ,,Tja", murmelte er, ,,dann müssen wir die Nacht wohl hier verbringen."

Ich riss geschockt die Augen auf. ,,Was? Nein", rief ich. ,,Was sollen wir denn sonst tun?", keifte er und setzte sich in Bewegung durch das gläserne Häuschen. Über uns trommelte der Regen auf das Dach und der Wind rüttelte an seinen Wänden, als wollte er uns herausjagen. Ich wollte mich mehr aufrichten und hinterhergehen, doch mein Fuß hatte seine ganze Kraft unterwegs verloren, weswegen ich umknickte und mich gerade noch so an einem Tisch festhalten konnte. Er hatte recht.

Er drehte sich um. ,,Alles ok?", fragte er und ich war verwundert über den besorgten Unterton in seiner Stimme. Ich nickte. Er zog eine Augenbraue hoch und kam in meine Richtung getrabt. ,,Soll ich dich wieder tragen?", fragte er. ,,Zu wenig Platz", gab ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mittlerweile schoss ein stechender Schmerz durch mein gesamtes Bein.

Schließlich griff er unter meine Schultern und setzte mich auf seine Schultern als wääge ich nichts. Ich duckte mich, weil das Dach des Häusschens relativ niedrig war. Ein steinerner Weg führte durch eine erdige Fläche, auf der sich jeweils linkd und rechts Gemüsepflanzen befanden.

Weiter hinten befand sich eine Bank, auf der einige Sachen abgeladen waren, unter anderem eine Gieskanne.

Mir wurde langsam heiß, denn innerhalb der vier Wände herrschten tropische Temperaturen. ,,Wir legen uns auf die Bank", legte er fest. Als wir hinten ankamen, nahm er mich runter und platzierte mich auf dem hölzernen Gestell, räumte die anderen Sachen ab und setzte sich selbst auch dazu. Ich zog meine Jacke aus und legte sie mit der trockenen Seite nach oben unter mich.

,,Danke. Äh...Müssen wir wirklich hier übernachten?", fragte ich dümmlich und schaute ängstlich auf die im Dunkeln bedrohlich wirkenden, riesigen Pflanzen. Er nickte.

Irgendwie waren wir beide liegend und in unsere Jacken gewickelt auf der Bank gelandet und nach einer Weile spürte ich seine Hand um meine Taille. Mein Herz setzte kurz aus, um danach dreifach so schnell weiterzuschlagen. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Dass mein Herz und mein Körper so auf ihn reagierten, lag nicht alleine an ihm. Ich hatte allgemein ein wenig Angst vor Berührungen.
Hilfe, dachte ich, ich werde diese Nacht nicht überleben. Ich werde bestimmt an einem Herzstillstand sterben!

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