AGNES

2 0 0
                                    


Langsam taste ich mich mit meinem Lada durch die Tiefe Bulgariens. Oder Transsilvaniens, kann ja niemand mehr erkennen in dieser Dunkelheit. Links und rechts befindet sich Wald, kleine Wege führen von der Hauptstraße bergab, in Zickzack-Form, wie nach einem Blitzeinschlag. Ein Scheinwerfer hat einen Wackelkontakt, der andere leuchtet schwach.

Was mach ich hier? Ich nehme einen Schluck Dosenbier - die Polizei wird kaum Streife fahren, heute Nacht in Obersibirien. Rehe gibt's hier auch nicht. Das Radio spuckt unverständliche Sprachen und grauenhafte Polka aus. Ich halte kurz an, lasse den Motor laufen, den Schlüssel stecken und schau mich im flackernden Licht meiner Schweinwerfer um. Dieser Weg muss vor langer Zeit entstanden sein. Ein gigantischer Blitzeinschlag, ein Zusammenprall von zwei Planeten oder mehr, tagelanger Hagel mit fußballgroßen Körnern.

Wenn ein Mensch vom Blitz getroffen wird, kann die elektrische Entladung rote Blutkörperchen aus den Kapillaren nach oben in die äußerste Hautschicht befördern. Dann hat der Getroffene bis zum Ende seines Lebens so ein Baum-Tattoo. Daran denke ich, als ich mit Premium-Pils in der Dose auf dem Asphalt stehe, der auffallend gut in Schuss ist.

Das kann man dann nicht weglasern.

Ich steige zurück in den Wagen, der Tank ist fast voll. Ich bin zu laut, aber kann mich überhaupt jemand hören? Eine Tür fällt ins Schloss, es ist meine Tür, auf der Fahrerseite. Schluck Premium Pils, Gang rein und weiter geht's.

Links und rechts fahren Baumstämme an mir vorbei, schmale Baumstämme, kahl und durch schwaches Mondlicht beleuchtet, gelb, orange und fast rötlich. Ihre Geschwindigkeit nimmt zu, die Bäume verschwimmen sichtbar zu einer Masse von Wald, dunkelbraun mit Lichtfetzen. Ich will zum Anfang des großen Blitzes gelangen, an den Ursprung der Planetenkollision, doch ein Schrei aus weiter Ferne stoppt mich. Wieder anhalten, der Motor läuft. Premium Pils, letzter Schluck. Die Dose lege ich zu den anderen in den Kofferraum, dort liegen die vollen und leeren lose nebeneinander auf dem Rücken oder auf dem Bauch, ist schwer zu unterscheiden bei Dosen. Mein Wagen müsste wie ein Hochzeitsauto klingen.

Neue Dose, wieder anfahren, ich kurbel das Fenster herunter, eine Tür fällt ins Schloss.

Langsam gleitet der Lada den Berg hinunter, auf der Hauptader der Lichtenbergstraße in Richtung Zentrum. Die Dosen rasseln kleinlaut im Kofferraum, die Reifen surren über den Asphalt und die Bäume bewegen sich gleichmäßig am Auto vorbei. Mein Herz hat fast aufgehört zu schlagen; es schlägt regelmäßig, doch nur ganz vage, wie auf Zehenspitzen. Dagegen ist mein Kopf umso lauter, nachtaktiv versucht er die Gegend zu erfassen und das nun autonome Fahren zu verstehen. Vielleicht ist das auch einfach hinzunehmen! Es ist 23:51 Uhr.

Ich werde in eine verlassene Ortschaft namens Agnes geführt. Ein schauriger Ort. Schaurig trifft eigentlich selten, was es ist, eine Redewendung in nur einem Wort! Doch hier ist es schaurig. Ein kleiner Fluss plätschert mühsam durch die Gassen, ehemals herzliche Gebäude hängen schwach beleuchtet am Ufer. Eine Katze streunt über einen größeren Platz mit nassem Kopfsteinpflaster, auch ein Klischee! Aber da ist nun mal eine Katze, gold und weiß, klein und verspielt, angriffslustig, wild und frustriert. Liebessehnsüchtig... Ich möchte sie streicheln, doch die Katze will lieber unters Auto. Das habe ich dort abgestellt.

Also zu Fuß weiter, vielleicht mit einem Wegbier. Eine leere Dose in den Kofferraum, eine volle auf die Hand. Zwei Mal Scheppern.

Drüben sehe ich schon eine Bar, ich muss mich beeilen mit dem Bier, ist zum Glück nur 0,3l. Während der letzten Schlücke pisse ich auf den Kirchenvorplatz, nicht ohne mich dafür zu entschuldigen. Aber ich will auch nicht gleich auf die Toilette laufen, wenn ich die Bar betrete.

Also betrete ich die Bar, großes Hallo. Letztes Mal haste dich wohl nicht getraut? - Letztes Mal war ich zum Arbeiten hier. - Aha, und dieses Mal? Ich bestelle ein osteuropäisches Bier. Ich befinde mich im Osteuropa meins Herzens, ein Ort, in dem man weder Urlaub machen noch arbeiten will.

Ein osteuropäisch anmutender Mann kommt in die Bar, er sieht eckig aus wie ein Russe, gedrungen muskulös wie ein Soldat. Und er ist Deutscher, schaut und spricht mich sofort an. Mir ist das peinlich, ich wollte doch alleine sein, ich wollte auch nicht mehr mit ihm arbeiten. Ich habe den Abteilungsleiter gebeten, ihn rauszuschmeißen, Gewaltandrohung gegen Angestellte, nicht gegen mich Gott sei Dank, ich habe trotzdem mein Zimmer abgeschlossen, zweimal. Und das Bett vor die Tür geschoben.

Er will mit mir befreudet sein, mit mir trinken, mich mit seinem Welthass, Selbstmitleid und seiner Zerstörungswut betrunken machen. Die Bardame gibt mir ein osteuropäisches Bier. Der Soldat will für mich zahlen.

Wenn ich jetzt fahre, muss ich nochmal zurückkommen. Wenn ich jetzt selber zahle, muss ich mir sein beleidigtes Gejammer anhören. Wenn ich ihm eine reinhaue, lacht er mich entweder aus oder haut zurück - oder beides. Ich nehme einen Schluck vom Bier, kein Premium übrigens.

Er hat argentinische Wurzeln und ist in Sachsen aufgewachsen. Und sieht russisch aus... Und ist deutscher Soldat - was würde der in Magdeburg anfangen?

Ich möchte nicht mit dir befreundet sein, sage ich. Und exse mein Bier.

Die Katze ist nicht mehr da. Ich schwöre mir, ab jetzt vegetarisch zu leben. Und fahre die Schlagader zurück in mein Bett.

AgnesWhere stories live. Discover now