gegenwart - teil zwei

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Mein Handy lasse ich nicht in London. Natürlich nicht.

Dafür ist es viel zu teuer und es sind viel zu wichtige Daten darauf gespeichert. Mein gesamtes Leben befindet sich darauf. Und dabei ist doch er mein ganzes Leben.

Obwohl, am liebsten würde ich das Handy gegen die Wand werfen, so oft bis das Display zerspringt und die Einzelteile herausfallen. Bis jede Nachricht gelöscht ist, bis jedes Foto auf ewig aus meinem Gedächtnis verbannt ist. Bis es zerschmettert am Boden liegt, in tausend Stücke zerfallen, und ich darauf herumspringen kann, bis mein Herz nicht mehr schmerzt und weint und tobt. Bis mein Herz die Lügen erträgt.

Die Tränen kommen wieder und ich kann sie nicht zurückhalten. Ungehindert rinnen sie über meine Wangen, als ich mich beim Check-In in die Warteschlange stelle. Aus meinem Mund entweichen kleine Laute, ich bin unfähig, sie zu kontrollieren und beinahe lasse ich meinen Reisepass zum zweiten Mal fallen. Der Mann im Businessanzug vor mir wirft mir einen irritierten Blick zu. Ich ignoriere ihn. Die ältere Frau neben mir schenkt mir einen mitleidigen Blick, doch wahrscheinlich sehe ich sie so böse an, dass sie sich kein weiteres Mal umdreht.

Als ich drankomme, sind die Tränen wieder getrocknet. Mit einer stoischen Geste überreiche ich der Angestellten meinen Reisepass und zeige die elektronische Boardkarte am Handy her. Ich muss mich zusammenreißen, während sie meinen Koffer auf das Band stellt. Er ist bestimmt fünf Kilo leichter. Fünf Kilo, für die ich keine Zeit hatte, sie einzupacken. Fünf Kilo, für die ich keine Nerven hatte.

Fünf Kilo, die genau wie mein zerbrochenes Herz für immer in London bleiben werden.

Ich renne förmlich zum Gate. Meine Gedanken drohen mich zu überwältigen und mein Handy ist laut und schwer. Dabei ruht es schweigend in meiner Hosentasche. Mit zitternden Fingern hole ich es hervor und beginne, eine Nachricht zu tippen. Eine einzige Nachricht. An Sienna.

Ich sende sie, sobald ich in der Gangway zum Flugzeug stehe. Ein Mann rempelt mich an. Er schimpft über mich, weil ich mitten im Weg stehe, doch es ist mir egal. Irgendwie erwische ich meine britische SIM-Karte. Mit aller Kraft verbiege ich die kleine Platte mit meinen bloßen Fingern. Dann lasse ich sie zwischen die Ritzen der Gangway fallen.

Irgendwo in meinem Rucksack, bei meinen Dokumenten, muss noch meine österreichische SIM-Karte sein. Ohne SIM-Karte ist mein Handy stiller als je zuvor und der Akku neigt sich dem Ende zu. Besser so.

Und schließlich sitze ich wortlos im Flugzeug.

Das Regenmädchen verlässt die Heimat des Regens. Und weiß, dass er sie immer verfolgen wird, wohin sie auch geht.

Petrichor - Der Geruch der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt