Der Fremde vom Bahngleis 2

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Es war ein regnerischer Tag im Herbst. Eine junge Frau, gekleidet in einen Trenchcoat und einen dünnen Schal um den Hals geschlungen, stand auf Gleis 1 des Bahnhofs Tannenstedt. Es war noch sehr früh. Die wenigen Leute um sie herum, die auch schon zu solch früher Stunde zur Arbeit fuhren, machten alle sehr müde Gesichter und gähnten um die Wette. Auch sie selbst konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

Ihr Blick wanderte zum gegenüberliegenden Bahnsteig. Verwundert kniff sie die Augen zusammen. Etwas stimmte nicht. Wo war der Mann? Sie ließ ihren Blick den Bahnsteig entlang wandern. Vielleicht stand er heute nur woanders? Aber warum sollte er das tun? Nachdem sie den Bahnsteig dreimal von einer Seite zur anderen abgesucht hatte, gab sie schließlich auf. Dann kam ihr der Gedanke, dass er sich auch einfach nur verspäten könnte. Jeder verschlief mal. Die Anzeigetafel verkündete, dass in Kürze ein Zug auf Gleis 1 kommen würde. Sie schaute auf die Uhr. Konnte sie es sich leisten, auf den nächsten Zug zu warten? Schnell rechnete sie nach und kam zu dem Schluss, dass es zwar eng werden würde, aber machbar sei. Also ließ sie den Zug abfahren, ohne einzusteigen.

Doch auch 10 Minuten später war der Mann noch nicht erschienen. Noch einen Zug durfte sie allerdings nicht verpassen. Sie stieg in die nächste Bahn ein und konnte noch einen Sitzplatz ergattern. Sie sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Landschaft vorüberzog. Wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Mann und warum er wohl heute nicht wie gewohnt auf der anderen Seite der Gleise aufgetaucht war. Seit dem Frühling hatten sie sich jeden Tag am Bahnhof gegenübergestanden. Sie auf Gleis 1, er auf Gleis 2. Zwischen ihnen die Gleise, auf denen in regelmäßigen Abständen Züge durchfuhren. Er war ihr aufgefallen, weil er im Gegensatz zu allen anderen putzmunter schien. Außerdem war er der einzige, der nicht auf sein Handy starrte, eine Zeitung oder ein Buch las, über Kopfhörer Musik hörte oder ähnliches. Er schien den Moment der Ruhe und des Wartens zu genießen. Plötzlich hatte er sie unverwandt angeschaut, als ob er ihren Blick gespürt hätte. Ihre Augen begegneten sich für einen kurzen Augenblick, bevor die Frau ertappt den Blick abwandte. Doch sie konnte nicht anders, als nach ein paar Sekunden erneut einen Blick zu riskieren. Er sah sie immer noch an und fing nun an zu lächeln. Bevor sie reagieren konnte, fuhr ihre Bahn ein und unterbrach somit den Blickkontakt.

Am nächsten Tag tauchte er zur selben Zeit am Bahnhof auf und ihr schien es, als stellte er sich absichtlich genau gegenüber von ihr hin. Wieder lächelte er ihr zu. Von da an standen sie sich jeden Morgen an derselben Stelle gegenüber, begrüßten sich mit einem Lächeln und tauschten Blicke aus. Manchmal machten sie sich auf Dinge aufmerksam, wenn sie hübsch oder lustig oder auch einfach nur interessant waren. Mal war es der Sonnenaufgang, mal der Pendler, der fast ihm Stehen einschlief. Dann wiederum gab es Tage, an denen sie sich einfach nur minutenlang wie in einen Bann gezogen in die Augen schauten, bis der Blickkontakt von einer Bahn unterbrochen wurde. War sie sonst eher ein Morgenmuffel gewesen, genoss sie nun die morgendliche Wartezeit. Dass er heute nicht erschienen war, fühlte sich für sie so an, als ob er ein unausgesprochenes Versprechen gebrochen hätte. Natürlich hatte sie kein Recht dazu und es entbehrte jeglicher Grundlage. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Hoffentlich war ihm nichts Schlimmes zugestoßen. Falls dem so sein sollte, würde sie es wahrscheinlich nie erfahren. Die Gedanken erfüllten sie auf merkwürdige Weise mit Traurigkeit. Schnell schob sie sie zur Seite. Den ganzen restlichen Tag schlich sich der mysteriöse Mann immer und immer wieder in ihre Gedanken. Jedes Mal musste sie sich zwingen, sich wieder auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.

Am nächsten Morgen stand sie noch früher als gewöhnlich an ihrem angestammten Platz auf Gleis 1. Sie war schon lange vor dem Klingeln ihres Weckers aufgewacht. Sie hatte sich schnell fertig gemacht und sogar ein kleines Frühstück gegessen. Trotzdem war noch Zeit übrig gewesen. Sie hatte es einfach nicht mehr Zuhause aushalten können, also hatte sie sich ihre Sachen geschnappt und war zur Tür hinausgestürmt. Nun stand sie am Bahnhof, voller Erwartung zur anderen Seite hinüberstarrend. Doch der Mann kam nicht. Wieder ließ sie ihren eigentlichen Zug vorbeifahren. Und als sie schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, tauchte er plötzlich auf. Aber nicht da, wo sie ihn erwartet hatte. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich neben ihr. Er schaute sie kurz aus den Augenwinkeln an und hielt ihr dann wortlos einen Brief hin. Völlig perplex nahm sie den Brief entgegen, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen. Er zwinkerte ihr zu und verschwand die Treppe hinunter. Dies alles geschah so schnell, dass sie sich nicht sicher gewesen wäre, ob es wirklich passiert war, hätte es ihr der Brief in ihrer Hand nicht bestätigt. Schnell riss sie den Umschlag auf, nahm den Brief heraus und fing voller Spannung an zu lesen.

Liebe Fremde vom Bahnhof Tannenstedt,

die letzten Monate waren sehr außergewöhnlich und aufregend für mich. Den Grund dafür kannst du dir wahrscheinlich denken. Ich habe unsere Unterhaltungen, wenn man sie denn so nenn kann, sehr genossen. Ich kann noch immer nicht ganz begreifen, wie gut wir uns auch ohne Worte verstanden haben. Aber das muss ich auch nicht. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, dir begegnet zu sein.

Leider musste ich wegen meines Jobs in eine andere Stadt ziehen, sodass wir uns von nun an nicht mehr am Bahnhof gegenüberstehen werden. Diese Tatsache stimmte mich erst niedergeschlagen, doch dann musste ich an den Spruch „Wenn's am schönsten ist, soll man aufhören" denken. Jetzt bin ich der Meinung, dass unsere Beziehung irgendwann böse geendet hätte und es ist gut, dass wir das nun nicht mehr erleben müssen. So können wir uns immer mit Freude an einander erinnern. Ich hoffe, du verstehst, was ich damit sagen will.

Ich bedanke mich für die schöne Zeit und wünsche dir alles Gute für den Rest deines Lebens!

Der Fremde vom Bahngleis 2

Als sie den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ sie die Hand, die ihn fest umklammerte, sinken. Sie schaute hinüber zum anderen Bahngleis, wo er immer gestanden hatte. Sollte sie ihn tatsächlich nie wiedersehen? Der Gedanke stimmte sie unendlich traurig. Sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt und doch hatten sie eine Verbindung aufgebaut. Er war Teil ihres Lebens geworden. Ihre Unterhaltung am Morgen war der schönste Teil ihres Tages und das, worauf sie sich am meisten gefreut hatte, wie sie sich nun eingestand. Es würde komisch sein, von jetzt an wieder allein zu sein. Ihre morgendliche Wartezeit am Bahnhof erschien ihr jetzt sehr öde. Dass die wortlose Interaktion mit einem Fremden, die gerade mal ein paar Minuten andauerte, solch einen großen Einfluss auf sie ausüben konnte, war ihr ebenso ein Rätsel wie ihm. Doch auch wenn sie traurig war, ihn nie wiederzusehen, gab es einen Teil in ihr, der froh war. Sie hatte etwas Außergewöhnliches erlebt und die Erinnerung daran würde ihr für immer bleiben. Es war so, wie er es in seinem Brief gesagt hatte. Auf diese Weise konnte ihre Beziehung nicht mehr kaputtgehen, sondern würde für immer so perfekt bleiben, wie sie die letzten Monate gewesen war.

Während sie darüber nachgedacht hatte, war ihre Bahn gekommen. Sie stieg ein und suchte sich einen Sitzplatz. Da fiel ihr plötzlich auf, dass ihr „Gesprächspartner" ihr nicht seinen echten Namen genannt hatte. Er hatte den Brief mit „der Fremde vom Bahngleis 2" unterschrieben. Sie beschloss, sich den Brief noch einmal genauer anzuschauen. Wenigstens seinen Namen hätte sie gerne erfahren. Am unteren Rand des Blatts fand sie eine Notiz, die in anderer Tinte und augenscheinlich in Eile geschrieben wurde.

P.S. Ich habe es mir anders überlegt. Vergiss den Quatsch mit „lass uns das was wir hatten bewahren, damit es nie zerbricht." Falls du möchtest, kannst du mich jederzeit unter folgender Nummer erreichen.

Der Fremde vom Bahngleis 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt