Nachdem die Tür hinter ihm mit einem resoluten Knall ins Schloss gefallen ist, umhüllt ihn dumpfe Stille. Ein surrender Pfeifton in seinem linken Gehörgang zieht für einen kurzen Augenblick jegliche Aufmerksamkeit auf sich, bis dieser von ihren gedämpften Tritten übertönt wird. Das Linoleum in der Küche knirscht abwesend, ihre Kunstlederschuhe treiben sie aus dem Haus. Wieder fällt eine Tür ins Schloss. Diesmal aber schwer, feuerfest. Für ihn jedoch kaum hörbar, er hat sich schon daran gewöhnt, dass sie ihn einfach in der kleinen Wohnung zurücklässt.
Ein schneller Blick durch das dunkle Zimmer. Es scheint noch alles an seinem Platz zu sein. Wie könnte es anders sein? Er wartet nur darauf, bis sie ihre Drohung eines Tages wahr macht. Seit nun fast 20 Jahren will sie ihm ein für alle mal seine Kindereiern austreiben, wie sie selbst sagt, und ihm alles kurz und klein hauen. Die Alm, den beschneiten Berggipfel, die Station, das Feuerwehrhaus, das Kirchlein und das Gipfelkreuz. Schließlich die Waggons und den Transformator. Sie werde ihm klar machen, dass sich etwas zu ändern habe. So ginge es jedenfalls nicht weiter.
Er stiehlt sich zu seiner Eisenbahn, knipst eine kleine Lampe an, nimmt die blau-goldene Schaffnermütze vom Haken, lässt die groben Finger über den weichen Samt laufen und schließt die Augen. Seine Hände zittern. Wie konnte es nur so weit kommen? Schließlich war man doch einmal verliebt. Klar, damals hatte man nicht sehr viel und man musste froh sein, wenn man einigermaßen überlebt hatte. Einige sind ja gar nicht mehr zurück gekommen. Und dann musste man sich eine neue Existenz aufbauen. Da war halt nicht so viel Zeit für Romantik.
Um seine Bandscheiben nicht zu sehr zu beanspruchen, lässt er sich vorsichtig auf den Holzsessel plumpsen, der in der einen Ecke des Zimmers steht und von wo aus man, wenn das große Licht eingeschaltet ist, einen guten Überblick über die ganze Eisenbahnanlage hat. Nachdem er die Mütze behutsam auf seine Oberschenkel gelegt hat, zieht er aus seinem Hosensack ein weißes Stofftaschentuch und wischt sich damit zuerst die Rinnsale aus den Augenwinkeln und dann die Innenwände der Nase trocken.
Gleich nach dem Krieg wollte sie in ein kleines Häuschen am Stadtrand ziehen. Die Mittel haben nur für diese enge Wohnung gereicht. Sie werde hier nicht sehr lange wohnen, hat sie damals gedroht. Außerdem hat er nicht gewusst, dass sie eigentlich doch heiraten wollte. Zwar nicht unbedingt ihn aber wenigstens heiraten, begann sie ihm dann nach Jahren immer wieder vorzuhalten. Im Laufe der Zeit wollte sie dann Kinder, doch es hat nicht geklappt. Sie hat es mit ein oder zwei anderen Männern versucht, erfolglos, und kam abends immer wieder zu ihm ins Bett zurück. Was könne er dafür, dass er ihr keine Kinder schenken konnte? Deshalb müsse sie ihn nicht wie einen Aussätzigen behandeln und vor allen schlecht machen. Und wenn er einmal vergesse die Spülung zu betätigen, müsse sie ihm deshalb auch nicht mit dem Suppenschöpfer auf den Rücken schlagen. Er mache es doch nicht mit Absicht. Oder seine Schuhe. Oder die Stromrechnung. Sie sei mit gar nichts zufrieden. Nie gewesen.
Vor 25 Jahren hat er dann die Eisenbahn entdeckt. Endlich hatte er etwas, was ihm wieder Freude machte, einen Sinn im Leben gab, ihn ablenkte. Er wurde wieder wie ein kleiner Knabe, der Pläne hatte und diese auch umsetzen wollte. Er baute alles selbst. Zuerst den Berg und die Alm. Dann die Station. Um die Station herum baute er dann bald das Feuerwehrhaus, die Kirche, das Wirtshaus, die Schule und die anderen Häuser. Schließlich die Zugstrecke. Es war sein Paradies. Und je länger er daran arbeitete, desto unzufriedener und erbarmungsloser wurde sie. Wozu habe er denn diesen vertrottelten Zug, wenn er gar nicht fährt? Er solle doch lieber ins Wirtshaus gehen, wie andere Männer auch in seinem Alter. Er sei doch nicht fünf usw.
Gerade als er sich erheben will, hört er wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und jemand in die Küche tritt. Er lehnt sich wieder zurück und setzt die Schaffnermütze behutsam auf seinen Kopf. Er legt seine Hände in den Schoß und wartet wie sonst auch darauf, dass sie ins Zimmer fällt und zu toben beginnt. Zuvor hört er noch wie in der Küche eine Lade geöffnet wird – der Suppenschöpfer. Mit einem lauten Knall fliegt die Tür zum Zimmer auf. Den Metalllöffel in der Hand schaltet sie das große Licht ein. Endgültigkeit blitzt aus ihren Augen. Er versprüht indes Gleichgültigkeit. Er weiß, dass jetzt die Zeit gekommen war, dass sich alles ändern müsse. Anders als sonst schreit sie diesmal nicht. Sie wirft ihm einen angeekelten Blick vor die Füße, tritt schweigend an die Anlage heran und holt aus, als stünde sie auf der Bühne von Verona. Mit einem fürchterlichen Schrei donnert der Metalllöffel herunter und fährt mitten in die Schaltzentrale der Zuganlage hinein. Ein greller Blitz durchzuckt den Körper, es faucht und kracht, und er hört noch wie ihr Kiefer auf dem Dach des Feuerwehrhauses zerschellt und dann auf dem Teppichboden dumpf aufprallt. Dann ist es für einen Augenblick totenstill.
Immer noch sitzt er da – jetzt zwar angespannt –, die Hände in den Schoß gelegt, die Schaffnermütze auf dem Kopf. Vor den Augen ist alles pechschwarz. Es mufft nach verbranntem Fleisch und versengtem Haar. Der Transformator der Zugsanlage surrt nun merkbar, leise und monoton. Schließlich erhebt er sich, sein Kreuz stützend, blickt noch einmal dorthin, wo ihr lebloser Körper liegen müsste, und tappt durch die dunkle Wohnung zum Telefon. Dort wählt er eine Nummer – automatisiert. "Ja, grüß Gott, ich wollte Sie fragen, ob Sie noch Interesse an meiner Eisenbahn hätten. Ich bin nun bereit, sie herzugeben."