1958
Irgendwo im Südwesten der USA
1
„Ladies und Gentlemen! Schön dass Sie sich in unser kleines Etablissement eingefunden haben. Wir haben heute Abend etwas ganz Besonderes für Sie. Aus dem fernen Kipton im wunderbaren Staate Ohio gibt sich heute eine Dame die Ehre, die den wunderbaren Hits der Dreißigerjahre ein Denkmal setzen möchte. Begrüßen Sie bitte mit Ihrem wärmsten Beifall Misses Lonette Robinson!"
Ein Finger mit scharlachrot lackiertem Nagel stach aus dem Dunkel und betätigte den Abspielknopf des Technics-Tonbandgerätes. Das erste Knistern zuckte durch den Raum, und bei den ersten Klängen von „Stardust" erhellte das Spotlight die Erscheinung von Lonette Robinson, einer Sängerin von einem Format und einer Klasse, wie man sie heute nur noch selten vorfindet.
In ihrem tadellosen, zwanzig Jahre alten, schwarzen Abendkleid erschien sie dem staunenden Landpublikum wie eine Auferstehung ihrer Jugend. Ihre kristallklare und sinnlich samtene Stimme schmeichelte sich sowohl in die gebrochenen, als auch in die verhärteten Herzen, die sich kaum noch an so eine Wahrhaftigkeit von Gefühlen erinnern konnten und die alte Zeit für unwiederbringlich vergessen gehaltenhatten. Ohne eine Pause ging es über zu „Midnight Moon", und anschließend lockerte Lonette die Stimmung auf mit dem heiteren „Cheek to cheek".
Knie wippten und Finger schnippten heimlich unter den Tischplatten. Sie konnte zwar kaum etwas sehen im grellen Licht des einzigen Scheinwerfers, aber sie spürte die Vibration des Publikums, den rhythmischen Stoß der rauchgeschwängerten Luft.
Das Ehepaar in mittleren Jahren, das sich schon zwei Wochen auf diesen Abend gefreut hatte, konnte kaum etwas von Lonette sehen, denn am Tisch vor ihnen saß Ernie Nayfack, ein 1,97m großer Schrank mit Schultern so breit wie die St. Andreas-Spalte. Wenn sie ihn gefragt hätten, ob er sich ein Stück weiter nach rechts setzen könne, er hätte ihnen bestimmt den Gefallen getan. Ernie Nayfack empfand es als Pflicht, die Dame auf der Bühne bei ihrer Geltung aufs Publikum zu unterstützen. Außerdem wusste Ernie, was gutes Benehmen ausmachte. Natürlich hörte er jeden Abend dasselbe Gesangsprogramm, wenn auch leicht variiert, doch er langweilte sich nie. Andächtig und brav saß er stets in Nähe der Bühne, wartete bis zum letzten knarzigen Ton aus der Bandmaschine und ging anschließend hinter die Bühne, in die Garderobe, sofern es eine gab.
Er goss für Lonette ein Glas Seagram's Gin halbvoll, für sich selbst einen Canadian Club Whiskey. Er legte ihre Kleidertasche bereit, und ihre Zigaretten. Lonette rauchte Chesterfield.
Ernie wartete, bis der Applaus verklungen war. Es schien ein guter Abend gewesen zu sein.
In der Garderobe war es so eng, dass Ernie sich kaum bücken konnte, ohne mit seinem Hinterteil eine Wand zu berühren.
Lonette kam herein und hielt 11 Dollar in den Händen. Sie lächelte Ernie mit einer tragikomischen Miene an. Beinah ohne hinzusehen griff sie nach dem Glas Gin und nahm drei große Schlucke. Ernie stand auf und half ihr, das Kleid aufzuknöpfen.
„Ich muss Doc anrufen." sagte sie.
Das Kleid wurde vorsichtig in die Kleidertasche gelegt. Es durfte nicht gerollt oder geknickt werden. Lonette zog sich eine einfache weiße Bluse und einen mittellangen Rock an. Dann setzte sie sich für einen Augenblick und nahm sich die Zeit, eine Zigarette anzuzünden.
So kurz nach dem Auftritt wurde selten viel gesprochen. Lonette brauchte eine Weile, um wieder herunter zu kommen. Ernie hatte sich den ganzen Auftritt lang mit dem Alkohol zurückgehalten, um nun mit ihr gemeinsam zu trinken. Sie spürte, dass er sich noch nicht auf dem erforderlichen Pegel befand.
„Trink, Schatz. Sonst kommt wieder die Atombombe."
„Ja." sagte Ernie. Seine Stimme klang für einen Mann seiner Statur eher dünn. Er rauchte nicht, trotzdem besaß sein Ton etwas leicht Zerkratztes. Wenn er jedoch laut wurde, konnte er klingen wie ein Elch.
„Lass uns schnell einpacken und ins Hotel zurück. Ich will jetzt nicht davon anfangen, wie mich diese 11 $ ärgern. Die Leute waren lieb.Aber wart' mal bis morgen Abend, da wird's noch besser. Doc hat mir erzählt, wie sentimental das Publikum in der „Cactus Lounge" ist. Alles Leute über 40."
Ernie nahm ihren Schminkkoffer und die Kleidertasche an sich. Lonette schaute noch einmal nach, ob sie nichts vergessen hatte, und dann sagten sie dieser Lokalität Auf Wiedersehen.
DU LIEST GERADE
Atomic Ernie - Teaser
General FictionEin Alkoholikerpaar tingelt durch den Südwesten der USA des Jahres 1958. Sie ist Sängerin, er ein ehemaliger Wrestler. Sie trinken, sie tritt auf, sie trinken. Schließlich bleiben sie ohne Benzin in der Wüste liegen, und der Gatte muss zu Fuß loszie...