„Ein Urlaub wie kein anderer“, hatte die Broschüre versprochen. Für Nicolas Tenner sollte sich dieses Versprechen bewahrheiten, wenn auch wohl nicht auf die Art, die dem Urheber des Prospekts vorgeschwebt war. Dabei hatte alles ganz idyllisch angefangen – die kleine Blockhütte im Wald, das stille Dörfchen den Hügel hinunter, die Natur ringsum und das schöne Wetter. Ein perfekter und ruhiger Urlaub.
Zwei Tage nach seiner Ankunft beschloss Nicolas, dem nur wenige Kilometer entfernten Dorf einen Besuch abzustatten. Er hatte bei seiner Anreise nur kurz im Tourismusbüro Halt gemacht, um sich den Schlüssel für sein Ferienhaus geben zu lassen, danach hatte er einfach einmal die Stille genießen wollen. Mittlerweile war ihm aber doch eher nach Gesellschaft und so stieg er ins Auto und machte sich auf den Weg. Die unberührten Wälder, die malerische Landschaft, die ganze Umgebung vermittelte ein Gefühl von herrlichem Frieden und Ungestörtheit, genau das was Nicolas gerade brauchte. Auch das Dorf selbst schien einem Bilderbuch entsprungen – ein hübsches braves Landhäuschen neben dem anderen, jedes mit einem mehr oder weniger gepflegten Vorgarten – in den meisten Fällen eher mehr als weniger, - nirgends eine bröckelnde Fassade oder ein lockerer Fensterladen. Die Straßen waren sauber und es roch nach frisch gebackenem Brot. Es war der perfekte Ort für seinen Urlaub, wie Nicolas feststellte.
Nachdem er sich im örtlichen Café ein Frühstück gegönnt und ein wenig mit einigen Einheimischen geplaudert hatte, beschloss Nicolas, einfach ein wenig durch den Ort zu schlendern und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Er kam an einem netten Kapellchen vorbei, an einigen Cafés und Restaurants und an einem kleinen Supermarkt. Dann erregte ein verblichenes Schild an einem Hauseingang seine Aufmerksamkeit. „Kuriositäten-Kabinett – Eintritt frei“, stand da in verblassenden Lettern. Die erste richtige Touristen-Attraktion, die Nicolas hier unter die Augen kam. Nun gut, dachte er, wieso nicht – und betrat das Haus. Drinnen saß ein kleiner, etwas gnomenhafter Mann mit auffällig dicken Augengläsern, der gerade dabei war, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Als Nicolas eintrat, sah er hoch und grinste ihn an. Es war wohl freundlich gemeint, hatte aber eine eher abschreckende Wirkung. „Guten Tag der Herr“, begrüßte eine krächzende Stimme den neuen Kunden. „Ich möchte mich nur umschauen“, meinte Nicolas etwas unsicher. „Tun Sie das, tun Sie das“, erwiderte der Gnom mit einer Grimasse, die mit viel Fantasie ein Lächeln hätte sein können. Dann tat er, als würde er sich wieder seinem Kreuzworträtsel widmen, in Wahrheit aber beobachtete er Nicolas auf eine penetrant offensichtliche Weise durch seine dicke Brille, während dieser durch den Raum schlenderte. Die meisten der sogenannten Kuriositäten waren recht banale Dinge wie Alraunenwurzeln, die wie kleine Menschen geformt waren, oder unnatürlich geformte Tierschädel. Es gab aber auch eine zweiköpfige Schlange, die sich in einem Terrarium um einen Ast wand und eine ganze Wand voller Fotos und Berichte über UFO-Sichtungen, Begegnungen mit Big-Foot, teilweise untermauert mit gefundenen Stücken seltsamer Metalle, in Gips gegossenen Fußabdrücken und Baumstämmen mit auffallend großen Zahnabdrücken. Der Höhepunkt des Ganzen war eine ausgestopfte siamesische Ziege mit zwei Köpfen und sechs Beinen. Alles in Allem fand Nicolas den ganzen Laden wesentlich unterhaltsamer als erwartet und er dachte sogar daran, dem Gnom ein Trinkgeld zukommen zu lassen, als er merkte, dass dieser nicht mehr auf seinem Stuhl saß. Er musste den Raum verlassen haben, während Nicolas sich die Zeitungsberichte an der Wand durchgelesen hatte. Als Nicolas zum nun leeren Stuhl ging, um dem Gnom einfach ein paar Münzen daraufzulegen, hörte er plötzlich ein leises Geräusch, das klang, als würde jemand weinen. Tatsächlich entdeckte er hinter dem Stuhl eine Tür, die ihm bis dahin nicht aufgefallen war. Ein Schild hing darauf, auf dem stand „Sehen Sie den Werwolf (nur Nachts)“. Neugierig horchte Nicolas an der Tür. Tatsächlich schien dahinter jemand zu schluchzen. Kurzerhand öffnete Nicolas die Tür und sah in den Raum dahinter. Er war stockdunkel, es gab keine Fenster, die einzige Beleuchtung kam vom Spalt in der geöffneten Tür. Als er die Tür weiter öffnete und das Licht aus dem anderen Zimmer in den Raum schien, sah Nicolas etwas Unfassbares. Vor ihm in einem großen Käfig kniete eine Frau auf dem Boden, nackt bis auf einen Fellumhang, die ihn mit wundgeheulten Augen erschrocken ansah. Nicolas konnte nicht glauben, was er sah. „Oh mein Gott“, brachte er nur heraus, näherte sich dann zögernd dem Käfig, noch nicht ganz sicher, ob er nicht träumte. Dann riss er sich zusammen und ging zu der Frau hin, kniete sich zu ihr, überprüfte die Gitterstäbe. Dann sah er der Frau direkt in die Augen, die ihn immer noch unsicher ansah. „Wer hat Sie hier eingesperrt?“ fragte Nicolas schließlich. Er wollte daran glauben, dass der Käfig nur eine Attrappe, die Frau Teil einer Abendshow war und nicht gegen ihren Willen hier festgehalten wurde. Doch ihre Augen verrieten ihm, dass dem nicht so war. „Bitte helfen Sie mir“, wisperte sie. Da wusste Nicolas, dass er genau das tun musste. „Ich hole sofort die Polizei“, sagte er entschlossen, erhob sich und wollte schon hinausrennen, als die Frau ihn zurückrief. „Nein, bitte gehen Sie nicht fort! Wenn er merkt, dass Sie mich gesehen haben, wird er mit mir verschwinden und Sie werden mir nicht mehr helfen können. Das ist schon einmal passiert, in der letzten Stadt.“ Sie begann wieder zu weinen. Nicolas war hin- und hergerissen. Natürlich wollte er helfen, aber das Ganze kam ihm noch immer zu unglaublich vor. Er sah sich im Raum um. Neben der Tür hing ein Schlüssel, der wahrscheinlich zu dem Käfig gehörte. Er konnte ihn einfach nehmen und die Frau befreien. Aber war das wirklich das Richtige? Sollte er nicht lieber doch erst die Polizei rufen? Er wusste ja nicht, wer die Frau war und warum sie hier eingesperrt worden war. Andererseits – wenn es stimmte, was die Frau sagte, wenn der Gnom, der sie wahrscheinlich hier festhielt, sie tatsächlich in eine andere Stadt entführen würde, dann wäre er persönlich Schuld daran, dass sie noch immer gefangen war. Und egal, was diese Frau getan haben mochte, nichts konnte diese Behandlung rechtfertigen. Zu einem Entschluss gekommen nahm Nicolas den Schlüssel von der Wand und öffnete den Käfig. Die Frau sah zitternd zu ihm hoch, Hoffnung in den Augen, und klammerte sich an ihren Umhang. Nicolas horchte auf Anzeichen, dass der Gnom wieder in den Eingangsbereich zurückgekommen war, hörte aber nichts. Kurzerhand half er der Frau hoch, reichte ihr seinen Mantel, damit sie sich damit bedecken konnte, und führte sie langsam aus dem Zimmer und zu seinem Auto. Nun wäre Nicolas‘ erster Impuls gewesen, direkt zur Polizei zu fahren, aber als er das arme Ding ansah, das da zitternd und schluchzend neben ihm im Auto saß, war er nicht sicher, ob das im Moment wirklich das Beste war. Nach einigem Zögern lenkte er das Auto zurück zum Ferienhaus. Es war nicht das Vernünftigste und nicht das Klügste, aber diese Frau hatte offensichtlich viel durchgemacht und Nicolas wollte ihr zumindest eine kurze Erholung gönnen, bevor er sie auf die Polizeistation brachte, wo sie voraussichtlich ziemlich lange verhört werden würde. Eine leise Stimme irgendwo in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass er einen Fehler machte, aber er hörte sie nicht.
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Tag und Nacht
Mystery / ThrillerEigentlich wollte Nicolas nur Urlaub machen, eine Auszeit nehmen. Doch alles ändert sich, als er im Hinterzimmer eines Kuriositäten-Ladens eine Frau entdeckt, nackt und ohne Erinnerung.