„Der Kaffee ist zu heiß. Wann wird die Ampel grün? Sitzt meine Krawatte? Es halten mich bestimmt alle für unzuverlässig, weil ich schon wieder spät dran bin..."; das und viel mehr geht mir gerade durch den Kopf. Ich stehe vor einer roten Fußgängerampel, halte einen Kaffeebecher in der Hand und bin auf dem Weg zu meinem Büro.
Es ist acht Uhr morgens und ich war heute schon joggen und habe mir im Anschluss meinen grünen Smoothie mit fünf zusätzlichen Vitaminen gemacht. Diesen Smoothie mache ich mir jeden Morgen seit meine Frau mir sagte, dass ich mich etwas gesünder ernähren sollte und auch zwei Kilo weniger auf der Waage mir gut tun würden. Zu diesem Plan gehört auch das Joggen jeden Morgen und der Salat in meiner Tasche, der mein Mittagessen sein wird.
Mein Tag ist durchgeplant. Wenn ich im Büro ankomme habe ich Berge von Arbeit auf meinem Schreibtisch liegen, die getan werden muss. Natürlich neben den durchgehend reinkommenden Anrufen,die ich annehmen muss. Meine Firma hat expandiert, weshalb wir gerade keine Sekretäre mehr haben. Die Arbeit muss jetzt ja auch einer tun.
Zusätzlich hat mir mein Chef am Sonntag eine Email geschrieben, in der er mich fragt, ob ich nicht noch zwei zusätzliche Klienten betreuen könne. Ich habe zugesagt; ich sage immer zu; ich bin zuverlässig.
Die Ampel ist grün, ich kann weiter gehen. Währenddessen schaue ich auf den Kalender in meinem Handy. Heute nach der Arbeit um 18 Uhr ist mein neuer Yogakurs. Ein Kollege hat mir dazu geraten, weil ich auch einmal Zeit für mich haben soll. Bei der letzten Yogastunde hat uns die Gruppenleiterin gesagt, dass wir jeden Abend eine Stunde meditieren sollen um zu uns selbst zu finden. Das mache ich von 21 bis 22 Uhr. Ich kann es erst so spät tun, da ich davor noch ein Abendessen für mich und meine Frau koche um ein guter Ehemann zu sein. Dieses essen wir dann auch noch gemeinsam und unterhalten uns über unsere Pläne für den nächsten Tag.
Wir beenden das Essen um zehn vor acht, da um acht Uhr die Tagesschau kommt und man ja informiert darüber sein muss, was in der Welt passiert.
Nach meinem Meditieren gehen wir, also meine Frau und ich, ins Bett, sodass wir noch unsere acht Stunden Schlaf bekommen. Dann sind wir ausgeschlafen. Wir schlafen auch am Wochenende nicht länger als acht Stunden, weil sonst ja die Nachbarn denken würden, dass wir träge sind.
Manchmal, wenn ich zum Beispiel im Wartezimmer beim Arzt sitze und vergessen habe mir etwas zu Arbeiten mitzunehmen, denke ich darüber nach, ob ich das überhaupt alles will. Mit „das" meine ich den durchgeplanten Tag, der mir keine Verschnaufpause lässt und in dem ich nur vorgebe durch das Yoga Zeit für mich zu verbringen.Früher hab ich mich total gerne mit einem Kompass vor eine Seekartegesetzt und so getan, als ob ich Nautiker wäre. Das wollte ich auch einmal werden: Nautiker.
Daraus ist aber nichts geworden, da meine Mutter gewollt hat, dass ich es einmal zu etwas bringe und man mit Nautik außerdem zu wenig zu Hause bei seiner Familie ist.
Meine Frau hält auch nicht so viel von der Schifffahrt, da sie ziemlich schnell seekrank wird. Also habe ich mein Boot verkauft.
Sie hat gemeint, dass ich sowieso nicht mehr in meine Schiffsregenjacke passen würde aufgrund meiner überzähligen Pfunde.
Ich finde gar nicht, dass ich so dick bin. Hat nicht jeder Mann ab vierzig das Recht sich ein Altherrenbäuchlein wachsen zu lassen - oder haben sich die Zeiten so sehr verändert?
Vielleicht kommt das von den „Social media", über die alle reden. Da soll es Bilder von Männern in meinem Alter geben,die so gut aussehen, dass sie mit den Zwanzigjährigen konkurrieren können.
Ich finde, ich sehe gut aus, aber „gut" ist nicht mehr gut genug!
Ich war vor zwei Wochen ein Mal bei einem Psychologen für eine Probestunde und er hat mir gesagt, dass ich mich so hinnehmen soll wie ich bin. Aber wie kann ich das, wenn die ganzeWelt das Gegenteil behauptet und mir suggeriert wird, dass ich noch besser und schöner in allem werden soll. Ich bin nicht mehr zu dem Psychologen gegangen, da dieser offensichtlich so weltfremd ist, mir erzählen zu wollen, dass man so akzeptiert wird, wie man ist.
Eine Lösung für mein Problem, weshalb ich überhaupt zu diesem Psychologen gegangen bin, habe ich trotzdem nicht gefunden. Ich wollte wissen, wie ich den Ansprüchen um mich herum genügen soll, wenn ich einfach keine Zeit im Alltag mehr habe, alles zuregeln. Gibt es dafür überhaupt eine Lösung?
Ich betrete mein Büro und stelle mein Tasche auf dem Boden ab. In meiner Tasche befinden sich neben dem Salat auch noch die Akten der zwei neuen Klienten, die ich betreuen soll. Zu diesen habe ich am Wochenende schon eine Ausarbeitung verfasst, die ich heute meinem Chef vorstellen werde. Der Termin dazu ist in fünf Minuten.
Ich hole also die Mappe heraus und vernehme ein tropfendes Geräusch, begleitet von dem penetranten Geruch nach Himbeeressig. Als ich noch einmal in meine Tasche schaue, sehe ich die offene Tubberdose, in der sich bis vor einer halben Stunde noch meine Salatsoße befunden hat. Jetzt ist die Tubberdose leer und die Salatsoße finde ich nach einem Kontrollblick auf meiner Ausarbeitung zur Betreuung der neuen Klienten.
In diesem Moment klopft es an der Tür, vor der gerade wohl mein Chef steht in der Erwartung, meine mit Himbeeressigsoße verfeinerte Variante der Klientenbetreuung vorgestellt zu bekommen.
Jetzt hilft nicht einmal mehr der Yogakurs!
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Der Stress des Alltags
Short StoryIch weiß nicht genau, wie man Kurzgeschichten beschreiben soll, also empfehle ich euch die Geschichte einfach zu lesen. Sie ist ja nicht sonderlich lang ;) Das tolle Cover ist von der lieben @girlyxbooks :)