Die Höhle
Samstag, 23. Mai
Es ist ein bisschen dunkel hier drin. Ich kann mich nicht mehr auf meine Augen verlassen. Ich muss mehr auf Geräusche achten. Hier drin hört man ja eigentlich nicht sehr viel. Meistens nur den Wind, der mir ein Schlaflied singt. Aber es wirkt nicht.
Mein Name ist Mark. Mark Purson. Ich schreibe diese Zeilen, damit ich etwas zu tun habe, denn ich sitze seit zwei Tagen in dieser Höhle, mit nichts als meinem Taschenmesser, meiner Uhr, einem kaputten Radio, diesem Block, dem Rest meines kaputten Zeltes, meinem Proviantrucksack und einer Isomatte.
Wie ich hier her kam?
Nun, eigentlich sollte es ein schöner Abenteuerurlaub in den Bergen werden. Ich hatte diesen Ausflug schon vor Monaten geplant. Meine Frau hatte gesagt, ich solle doch lieber mit ihr und meinem Sohn Franky irgendwohin fahren wo's warm ist. Meine liebe Christine. Ich hätte doch auf sie hören sollen.
Aber was solls. Ich werde eh gefunden, und dann kann ich immer noch in die Ferien fahren.
Als ich losging, vor drei Tagen, hatte ich noch ein Zelt und einen Schlafsack dabei. Ich bereite mich immer gut auf sowas vor. Aber in der ersten Nacht (ich habe meinen Rucksack als Kopfkissen benutzt, sonst wäre er geklaut worden, denn hier in den bewaldeten Bergen gibt es Bären, die nur auf solche Gelegenheiten warten) kam ein Platzregen (der nicht vorauszusehen war, nicht einmal von dem Wetterdienst im Radio, dass ich dabei habe) und mein Zelt zerriss. Ich rannte in den Regen hinaus und suchte Schutz unter einem der größeren Bäume (was auch nichts brachte, bei dem Wolkenbruch) und vergaß dabei meine ganzen Sachen. Als ich am nächsten Morgen zu meiner Schlafstelle zurückging, fand ich mein Radio verkohlt (ein Kurzschluss), meinen Schlafsack zerfetzt und mein Rucksack durchnässt vor.
Ich suchte die Dinge, die ich noch gebrauchen konnte, zusammen und ging weiter. Ich musste einen Unterschlupf finden für die nächste Nacht. Leider hatte der Regen nicht ganz aufgehört, sondern war nur leichter geworden, so dass ich den ganzen Tag nicht wusste, in welche Richtung ich ging, da ich mich immer an der Sonne orientiert hatte, doch bei dem Wetter? Die riesigen Wolken, die schwarz und bedrohlich aussahen, verhießen nichts Gutes, und ich musste mit einem weiteren Regenguss rechnen. Deswegen suchte ich eine Höhle oder einen Felsvorsprung.
Bis zum Abend war ich unterwegs, als ich dann endlich diese Höhle fand, in der ich immer noch sitze. Warum? Nun, als ich hineinkroch und mich auf die Isomatte legte, hörte ich um mich herum lautes Donnern. Der nächste Wolkenbruch war da und plötzlich krachte etwas außerhalb meines Unterschlupfes und zwei riesige Birken fielen direkt vor den Eingang der Höhle und versperrten mir den Weg hinaus. Seitdem sitze ich hier drin und schreibe diese Worte auf, vielleicht nur für mich, vielleicht auch für meine Familie, damit sie wissen, was ich durchgemacht habe, wenn ich hier rauskomme. Und ich komme hier raus. Auf jeden Fall.
Die Höhle, in der ich sitze, ist ungefähr drei Meter hoch und hat zwei Zugänge, von denen der eine von den Birken versperrt ist, und der andere zu klein für meinen Körper ist. Ich kann gerade mal meinen Kopf und meine Arme hinausstrecken. Mein Proviantrucksack leert sich mit jedem Tag. Ich habe angefangen, mir meine Sandwiches (es waren einmal sechs, jetzt sind es drei Halbe), meine Bonbons (ein angebrochener Pack Eisbonbons) und meine Würstchen (von denen ich zehn eingepackt und jetzt noch zwei übrig habe) in Häppchen aufzuteilen, aber ich werde es mit diesen Vorräten nur noch ein paar Tage aushalten. Dann muss ich mir etwas anderes suchen. Verdursten werde ich nicht. Ich habe genug Wasser dabei (zwei 2 Liter Flaschen voll) und Regenwasser, welches ich draußen auffangen kann, wird mir auch bekommen. Das wichtigste ist, dass ich hier rauskomme. Auf jeden Fall.
Jetzt wird es dunkel. Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen. Hoffentlich gelingt es mir endlich wieder. Ich habe schon seit 49 Stunden keinen Schlaf mehr gehabt. Das macht sich bemerkbar, glauben Sie mir.Sonntag, 24. Mai
Heute Nacht hat es wieder geregnet wie aus Eimern.
Aber ich bin ja sicher. OK, die Suchmannschaften, die sie losgeschickt haben, werden heute Nacht Pause gemacht haben, aber sie werden im Laufe des Tages wieder losgehen und mich finden. Da bin ich mir sicher.
Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal richtig Hunger und habe gleich zwei Rationen gegessen. Ich brauche das einfach. Meine Wasserflaschen leeren sich zusehends und ich werde bald damit beginnen müssen, das Regenwasser aufzufangen.
Gott sei Dank ist es nicht Winter, sonst würde ich hier erfrieren. Und wer weiß, was für Monster sich hier zu ihrem Winterschlaf einfinden würden.
Ich habe zum ersten Mal seit ich in dieser Höhle sitze mehr oder weniger geschlafen. Sehr schlecht aber immerhin. Ich spüre auch, wie die Kraft mich wieder durchströmt. Sie haben ja keine Ahnung, wie das ist. Außer sie leiden an Schlaflosigkeit (oder Insomnia, wie der Fachausdruck der Psychologie heißt) und freuen sich über jede Minute Schlaf.
Wie meine Frau. Sie leidet schon lange an Insomnia und ich habe versucht, mit allen Mitteln dieses Problem zu lösen, jedoch ohne Erfolg. Als Laie in solchen Dingen ist es auch sehr schwer.
Da fällt mir ein, dass ich Ihnen ja noch gar nicht gesagt habe, was ich so mache. Ich bin ein kleiner „Wald- und Wiesenlehrer" (das sagt meine Frau immer) und unterrichte in der Grundschule eine erste Klasse. Zur Zeit bringe ich ihnen die Zahlen und Buchstaben bei. Wir sind beim V, v und die Kinder lernen schnell und sind sehr wissbegierig. Ich liebe Kinder. Deshalb wollte ich unbedingt eine Familie gründen. Gott sei Dank habe ich die richtige Frau gefunden. Christine ist meine Traumfrau. Als sie schwanger war, lag ich stundenlang im Bett neben ihr mit dem Kopf auf ihrem Bauch und redete mit meinem noch nicht geborenen Kind.
Natürlich wollten wir nicht wissen, was es wird, denn da wäre doch die ganze Überraschung hin, oder?
Ich liebe Franky. Eigentlich heißt er Franklin, aber wir nennen ihn nur Franky, das klingt niedlicher. Er meldet sich am Telefon trotzdem immer mit Franklin Purson. Ich liebe ihn wirklich.
Wenn ich hier rauskomme, werde ich mit ihm zusammen Ferien machen. Zwei Wochen nur wir zwei zusammen. Christine wird das nicht gefallen, aber es ist mir egal. Es passiert ja nichts. Also wenn man alles richtig macht. Und eigentlich bin ich ein Mensch, der alles bis ins kleinste Detail plant und alles perfekt haben will.
Abend
Ich habe heute mittag hinausgesehen und festgestellt, dass sich das Wetter sehr viel verbessert hat. Die Sonne scheint zwischen den Wolken hervor und wärmt die Höhle auf. Hoffentlich nicht zu sehr. Ich schwitze so leicht.
Ich habe nochmals die Höhle durchsucht und diesmal abgeschritten. Sie misst ungefähr sechzig Schritte vom versperrten Eingang bis zu dem anderen und ungefähr hundertvierzig Schritte quer. Außerdem habe ich noch einen Eingang entdeckt, der mir bei meinen ersten „Rundgängen" nicht aufgefallen war, weil er sehr versteckt liegt. Er ist in einer Ecke zwischen zwei Felsen und ich komme mit dem Oberkörper heraus. Jedoch komme ich nicht weiter, denn mit stehen riesige Dornenbüsche und eine Klippe (bei meiner Höhenangst ein riesiges Hindernis) im Weg. Wenn ich rausklettern würde, fiele ich die Klippe runter und wäre wahrscheinlich tot. Außerdem ist es sicherer hier drin. Die Dornbüsche bei diesem Eingang (ich sage immer Eingang, weil man reinkommt, aber nicht raus) tragen kleine Beeren und wenn mich nicht alles täuscht, sind sie essbar. Ich werde mir morgen ein paar davon pflücken. Viele werde ich nicht brauchen, ich komm ja eh bald hier raus.
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Die Höhle
Short StoryEine kleine Horror Geschichte über Isolation. Was passiert mit dem Verstand, wenn man sich verläuft und allein und eingeengt in einer Höhle auf Rettung wartet?