Die Idee

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Der Gedanke mit dem Heroin war uns gekommen, weil Jamie, der Sohn unseres Lehrers, mal wieder glänzend bewiesen hatte, das geistige Erbgut seiner gescheiten Eltern zur Gänze seiner jüngeren Schwester überlassen zu haben. Dies mag nicht ganz fair sein, da er ja immerhin nicht selbst die zweitausend zu beschaffen hatte, allerdings einer seiner "Freunde", deren Gesellschaft freiwillig zu suchen schon ein ganzes Stück Dummheit mit sich brachte, wenn man aus einer feinen Familie wie Jamie entstammte. Besagter Schwachkopf, der unverdient den hübschen Namen Sebastian trug, war beinahe neunzehn Jahre alt und vertrieb seine Zeit nicht in der heruntergekommenen Bruchbude von Schule, die es sich anmaßte seinen Eltern den letzten Rest ihres kaum redlich verdienten Geldes aus der Tasche zu ziehen, sondern viel lieber den ganzen Vormittag in den dreckigen Gassen, wo er, abgesehen vom Klauen billigem Tabaks und dem Hinterherpfeifen dreckiger Straßenmädchen, sein sauber erstohlenes Geld für gestrecktes Gras ausgab. Wie genau er es geschafft hatte, den Zorn seines Zulieferers bis hin zu einer derart schwindelerregenden Summe zu treiben, war uns nicht genau zu Ohren bekommen, nur wenn man in Verhältnissen zu leben pflegt wie Sebastian es tat, ist die erstbeste Person die einem im Falle eines so hohen Schuldenbergs doch einfallen würde, der Sohn eines gut betuchten Professors, mit dem er ohnehin soviel Zeit verbrachte, dass er sich die Bitte mit einer Selbstverständlichkeit vorzutragen erlaubte, die eigentlich einer gesunden Ohrfeige bedurft hätte. Nun war Sebastian, wie manch eine wandelnde Mangelerscheinung von geistiger Kompetenz ihr Schicksal auszugleichen suchte, nicht der Typ, dem jemand von geringerer Statur bei gesundem Verstand auch nur ein Haar zu krümmen gewagt hätte. Wer besagten Fehler dennoch machte, erhielt von Sebastian des öfteren eine Lehre, die sein Schlagring (wohl das Einzige, für das er jemals Geld auf den Tisch gelegt hatte) malerisch im Gedächtnis bleiben ließ.

Jamie also, natürlich nicht annähernd im Stande dieser Zahlung nachzukommen, konnte selbstverständlich auch nicht seinen Eltern dieses Problem darlegen und hatte nun diesen einen sogenannten Freund an sich hängen, der ihn "bat", ihm im Zuge seiner nach Sebastians Meinung scheinbar unerschöpflichen Geldmittel aus der Klemme zu helfen. Das hatte Jamie also nun davon, sich mit jemandem wie Sebastian herumzutreiben, aber derartige Reden konnten keinem in dieser Lage weiterhelfen und Jamie war wohl klug genug, dies nun selbst zu wissen und sich auch zu merken.
Keinen Ausweg aus seiner Lage wissend war er zu uns gekommen, seinen guten Freunden, die wir seit sechs Jahren nun schon die selbe Klasse teilten. Aber auch wenn all das Geld, das wir zusammenlegen hätten können, nicht einmal einen Viertel des gefragten Betrages ergeben hätte, war keiner von uns gewillt, für die zwielichtigen Schulden einer verlorenen Existenz wie Sebastian eine war, aus dem persönlichen Vermögen aufzukommen. Nun saßen wir also, am späten Abend, jeder von uns eine von Dillans teuren Zigaretten rauchend (abgesehen von Jonathan, von allen John gerufen und den Geschmack von Tabak verabscheuend), auf dem Dach des Restaurants Calivero, dessen Eigentümer Dillans Eltern waren und sannen, mehr im Scherz als ernst gemeint, darüber nach, wie man Jamie, beziehungsweise Sebastian (auch wenn uns an dessen Not wenig gelegen war), aus seiner unangenehmen Situation befreien könne. Hierbei mussten wir stets aufpassen, da die Putzfrau des Restaurants sich trotz ihres hohen Alters dennoch des öfteren um eben jene Uhrzeit die Mühe machte auf das Dach zu steigen und dem Geruch von Tabak auf den Grund zu gehen, der in die unter uns gelegenen Abstellräume des Personals zog und auch dessen nicht müde wurde.
"Ich sehe die Schwierigkeit darin nicht, Sebastian einfach aus dem Weg zu gehen bis der Typ, der ihm das Geld abknöpfen will, ihn platt gemacht hat. Warum sich einmischen?", fragte John grade an Jamie gewandt. Gefragter zuckte mit den Schultern.
"Das kann ich nicht. Ich kann nicht zusehen, wie ihm dieser dreckige Kerl die Kehle aufschlitzt nur wegen diesem Bißchen an Geld."
Ich schnaubte.
"Von einem 'Bißchen' kann man wohl kaum sprechen, für das Geld könnte man sich glatt ein Auto kaufen."
"Trotzdem nicht. Seb ist ein guter Kerl und ich will nicht, dass er deswegen draufgeht."
Dillan und Ich, die wir hinter Jamie auf einer kleinen Erhöhung saßen, wechselten einen Blick, der mir kundtat, dass er meine Meinung bezüglich des Ladendiebes teilte.
" Nachheulen wird ihm außer dir doch sowieso keiner", warf John frech ein. "Da unten krepiert doch im Stundentakt irgendein Junkie, sei es an einer Überdosis, oder weil er nicht zahlen konnte." Man konnte nicht sagen, dass er damit Unrecht hatte, aber für Jamie waren es trotzdem harte Worte. Er wandte sich nur kurz um und blickte an mir und Dillan vorbei auf John. Er schluckte etwas runter, was ihm fast über die Lippen geglitten wäre und drehte seinen Kopf nur wieder zurück Richtung der schwach belebten Straße, über der er die Beine baumeln ließ.
"Wir brauchen also schnell viel Geld", setzte ich die eigentliche Überlegung fort.
"Nutte müsste man sein", kicherte John.
"Selbst wenn, jemand mit deinem Gesicht bräuchte trotzdem drei Monate, um das Geld zu bekommen", antwortete Jamie.
"Als käme es dabei aufs Gesicht an. Das einzige was zählt -"
"Hey, sowie du redest bist du auch nicht besser als dieser Sebastian", sagte Dillan und blies eine lange Rauchschwade in die kühle Abendluft. Ich grinste.
"Praktisch gesehen hat er ja Recht, mir fällt kein Job ein, der die Taschen schneller füllt." Dillan blickte mich leicht überrascht von der Seite an. "Tatsächlich? Mir kommen dutzende in den Sinn."
Jetzt war ich der Überraschte.
"Lass hören", kam es von John.
"Naja, die Legalen sind natürlich schwer zu bekommen. Verdienen wie der Premier würde jeder gerne, aber für den Job sind wohl nur wenige geschaffen -"
"Mit eingeschlossen meine hohe Persönlichkeit, versteht sich", ergänzte John.
Dillan fuhr fort:
"Aber für die weniger Legalen muss man auch erst einmal die richtigen Leute kennen."
"Als unterscheide sich dies vom Arbeitsleben im Parlament", murmelte ich. Dillan hatte mich nicht gehört und sprach weiter:
"Schmuggler verdienen gutes Geld, Rauschgifthändler auch. Als Räuber oder Dieb hat man es zwar weniger riskant, aber der Ertrag ist auch geringer. Zumindest wenn man nicht im großen Stil Banken ausraubt."
"Du hast dich ja eingehend mit dem Kram auseinander gesetzt", lachte Jamie. Dillan runzelte die Stirn.
"Das solltest du wohl auch tun", gab er zu bedenken. Eine Weile wurde es still und keiner sagte etwas. Wir saßen da, rauchten, beobachteten das rege Treiben auf den Straßen oder die langsam aufflimmernden Sterne am Firmament und hingen ein jeder unseren Gedanken nach. Mich beschäftigte noch immer die Ideen von Dillan. Er hatte Recht und es war nicht so als wäre mir das neu, als Drogenhändler, Schmuggler oder dergleichen verdiente man schneller und mehr als manch ein Politiker es tat. Natürlich waren es keine ehrenwerten Berufe und die mit einher gehende Gefahr war sehr groß. Mit den Drogenberufen und ähnlichen schmutzigen Geschäften war es wie mit der königlichen Familie. Wurde man nicht in sie hineingeboren, so bestand auch nur eine sehr geringe Chance ein Teil ihrer zu werden. Trotz allem reizte mich ersteres mehr als die heuchlerische Monarchie hinter dicken Mauern es tat. Die Eltern aller Jungen, die hier auf dem Dach saßen, hatten gute Einkommen und waren wohl auch das, was man als vornehm bezeichnen würde, aber die arme Bevölkerung lebte hier Haustür an Haustür mit der wohlhabenden und so waren einem die Lebenswege der anderen Schicht weder fremd noch vertraut. Man wuchs mit einem gewissen Maß an Gesetzlosigkeit auf, und auch wenn diese verschwand, sobald sich die Haustür hinter einem schloss oder man zweimal die richtige Straßenecke zu nehmen wusste, so tauchte sie doch wieder altbekannte auf, wenn man zur falschen Zeit auf die Straße trat, die falschen Ladenräume betrat oder bloß dem falschen Nachbar durchs Fenster einen zu langen Blick schenkte. Man verschloss lieber die Vorhänge, wenn vor der eigenen Haustür jemandem mit Gewalt der Tascheninhalt genommen wurde, als die örtlich schwach besetzten Polizeistationen zu informieren. Die Erwachsenen bezeichneten es fraglos als ein Elend, manch einem Aufwachsenden gefiel die Freiheit und sogar der Mangel an Sicherheit auf der Straße. Kinder, die hier aufwuchsen, wurden selten zu frommen Mitgliedern der Arbeiterklasse, keineswegs arm, solange das Elternhaus das richtige war, nur trug die Jugend in Vierteln wie diesem dazu bei, dass angehende Geschäftsleute oft über die Grenzen der Gesetze hinaus operierten. Hinzu kam wohl auch die bereits in den Elternhäusern eingebrannte Verachtung gegenüber der Regierung und ihrer Art, mit den Problemen der Bevölkerung umzugehen.
"Glücksspiel", brach Dillan plötzlich das andächtige Schweigen.
Wir anderen drei nickten zustimmend. Die dritte Methode an Geld zu kommen, jenseits von Gut und Böse, war am Spieltisch einer verrauchten Spielhölle. Doch das dafür erforderliche Glück war keinem von uns oft zu Gnaden. Auch würde man jeden von uns wohl sofort zur Tür hinauswerfen, würden wir es wagen auch nur einen Fuß in ein halbwegs vertrauenswürdiges Casino zu setzen, hatte doch noch keiner von uns bereits das vorausgesetzte Alter erlangt.
"Man könnte es versuchen, oder? Das scheint mir am besten zu sein", sagte Jamie schwach. Ich brachte meinen Einwand zu bedenken und er verfiel zurück in ein nachdenkliches Schweigen.
"Eine Spielhölle, die keine Lizens hat, würde auch kaum eine von einem von uns verlangen", hielt John dagegen.
"Nur in solchen Läden ist die Chance an echtes Geld zu kommen gleich Null."
"Was schert uns das? Jamie, sag Sebastian er soll sich sein Geld in einem dieser Casinos zusammenspielen. Gib ihm ein kleines Startkapital und wenn er das verschleudert, steht er in der Schuld und nicht du, wie er es grade zur Schau stellen will. Falls er tatsächlich alles erforderliche Geld gewinnt, so sind doch alle Beteiligten zufrieden."
Jamie schien über das Gesagte nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf.
"Sebastian würde es darstellen, als würde ich ihn seinem Problem allein überlassen."
"Aber es ist ja auch sein alleiniges Problem, wie kommt er darauf es dir anzulasten!?" John hatte seine Stimme so laut erhoben, dass sogar ein paar Menschen auf der Straße die Köpfe nach oben zu uns gewandt hatten, um den Ursprung des plötzlichen Lärms zu erfassen.
"Beruhig dich", versuchte Dillan ihn zu beschwichtigen. "Willst du vielleicht meine Eltern hier aufs Dach locken?"
"Ach!" John winkte ab.
"Aber er hat Recht", gab ich zu bedenken. "Was kümmern dich seine Probleme? Du bist nicht abhängig von ihm und er bereitet dir nichts als Ärger."
Jamie zuckte hilflos mit den Achseln.
"Was soll ich denn machen? Ich bin der einzige den er kennt, von dem er annehmen kann, ich sei in der Lage soviel Geld zu beschaffen. Wenn er es nicht von mir bekommt, von wem dann?"
"Was kümmert's dich! Etwa deiner innigen Freundschaft zu ihm willens", spottete ich.
"Er wird es mir mehr als nur übel nehmen, wenn ich meine Hilfe verweigere, ich will nicht enden als jemand, der den Rest seiner Tage an einen Stock gebunden sein wird."
"Dein Vater würde ihn dafür mit gebundenen Füßen in den Fluss werfen lassen", sagte Dillan empört. "glaubst du tatsächlich, dass dieser kleine Schläger soweit geht?"
Jamie ließ erneut die Schultern zucken.
"Das hat er mit Daniel auch gemacht, der hat ihm nur vierhundert geschuldet und ihm dafür die Finger gebrochen."
Dillan blickte ihn erstaunt an.
"Der Daniel? Daniel Hooker?"
"Wieviele Daniels kennst du", antwortete Jamie.
"Aber ich dachte er hätte sich die Finger bei einem Sturz gebrochen? So hat er es mir jedenfalls erzählt."
Jamie lachte freudlos auf.
"Würdest du denn damit prahlen, vierhundert Pfund Schulden für Heroin auf diese Weise beglichen haben zu müssen?"
John pfiff anerkennend.
"vierhundert Pfund für Heroin? Das scheint mir ein teurer Spaß. Sind bei derartigen Geschäften nicht Vorauszahlungen die Norm?"
"Vielleicht war es noch viel mehr als nur der Gegenwert der vierhundert Pfund und er hatte nur einen Teil bezahlen können", mutmaßte Dillan.
"Nun", antwortete ich, "dann ist dieser Sebastian aber ziemlich dumm, wenn er den Gegenwert zu vierhundert Pfund ohne Sicherheit einfach so herausgibt. Da fällt mir ein, hat Sebastian dir kein Wort darüber erzählt, wie er sich um zweitausend verschulden konnte?"
"Nein", antwortete Jamie. "mich wundert es selbst sehr, da er selbst sich kaum mit teurem Zeug zudröhnt. Aber er wollte es mir nicht erklären."
John reckte die Hände gen Himmel. "Aber dennoch verlangt er allen ernstes von dir, so eine Schuld ohne Fragen zu begleichen, obwohl es nicht einmal die deine ist?"
"Tu ich es nicht, werden ihm mehr als nur die Finger gebrochen. Ich bin sein einziger Ausweg."
"Warum überfällt er nicht einen der kleinen Läden in seinem Viertel?", fragte Dillan. Aber Jamie schüttelte den Kopf, als habe er diese Frage bereits erwartet.
"Es ist eine Sache, aus einem Laden etwas mitgehen zu lassen. Aber ihn tatsächlich auszurauben, das wagt er dann nun doch nicht."
"Ein Feigling ist er." John spie in hohem Bogen aus und wir alle beobachteten die Flugbahn der Spucke, bis sie gegen eine gegenüberliegende Hauswand traf. Dillan und ich nickten anerkennend.
"Das bestreite ich nicht. Und jetzt, da ich um diese Erkenntnis reicher geworden bin, werde ich mich im Zukunft davor hüten, ihm nahe zu kommen." Dillan legte seine Hand väterlich auf Jamie's Schulter.
"Jamie, Jamie, Jamie...", fing er seufzend an. "du... bist ein Dummkopf." John lachte schallend.
"Wie rasch dir doch die Erkenntnis kam, jemand wie Sebastian sei ein Feigling. Ohne Frage eine Erleuchtung von göttlicher Weitsicht und einer scharfsinnigen Menschenkenntnis."
Nun lachte auch ich. Jamie indess schien nur noch aus einem Häufchen Elend zu bestehen. Ich stand auf und klopfte ihm aufmunternd auf die andere Schulter.
"Keine Sorge, du Dummkopf. Wir kümmern uns um dein Problem. Auch wenn es eigentlich weder dein noch unser ist", fügte ich hinzu.
Jamie blickte mich misstrauisch an.
"Wie gedenkt ihr, das zu tun? Willst du dich in ein Casino schleichen?"
"Nein, ehrlich gesagt nicht."
Alle blickten mich gespannt an.
"Ich beschloss soeben, mein Leben gänzlich einer Geschäftswelt zu widmen, die mir erträglicher zu sein scheint als die ominösen Bankgeschäfte meines Vaters."
Die Blicke der anderen sprachen Ratlosigkeit. Dillan zog eine Augenbraue hoch.
"Aus deiner Aussage schließe ich, daß du vermutlich nicht vorhast, der freien Marktwirtschaft beizutreten."
"Nun, in gewisser Weise durchaus."
"mach es nicht so spannend. Wovon redest du da", fragte John.
"Der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse."
"Drogen", riet Dillan ins Blaue hinein.
Ich nickte nur. Dillan zeigte kein Zeichen von Überraschung sondern nickte nur langsam. John lachte wieder nur und fügte hinzu: "Ich glaube dir keine Sekunde, dass du das nicht ernst gemeint hast." Jamie saß nur stumm da und starrte den aufziehenden Wolken entgegen, als habe er innerlich bereits mit seinem Schicksal abgeschlossen.

Erzählungen eines VogelzüchtersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt