Gefährlicher Abgrund

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„Ja?“ Blaffte er gereizt ins Telefon.

„Ich habe alles vorbereitet. Wann kann es losgehen?“ Meldete sich eine tiefe Stimme.

„Sobald ich es sage!“ Mit den Schuhen kratzte er über den alten Holzboden. Ein kurzer Blick zur verschlossenen Kellerluke im hinteren Teil des Raumes verriet ihm, dass die Göre brav in ihrem Versteck geblieben war.

„Es ist wichtig, dass dem Kind nichts passiert.“

„Keine Sorge, sie lebt. Noch.“ Er schnaubte. Der Anrufer konnte echt lästig sein. Dabei hatte er die Fronten gezogen, die Bedingungen klargestellt. Keine Spielchen, sonst würde es dem Mädchen schlecht gehen. „Der Sheriff steckt seine Nase zu tief in den Plan. Was können Sie unternehmen?“

„Das habe ich mir fast gedacht.“ Kam es verärgert von der anderen Leitung.

„Sie wissen, was das für Sie bedeutet.“

„Ich kümmere mich darum.“ Unterbrach ihn die tiefe Stimme, bevor er seine Drohung aussprechen konnte.

„Das wird nicht mehr nötig sein. Heute Abend hat diese sinnlose Verfolgungsjagd ein Ende.“ Verkündete er mit einem bösartigen Lächeln.

„Wollen Sie mich in Ihre Überlegungen einweihen?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie werden früh genug davon erfahren. Kümmern Sie sich um Ihren Teil und halten Sie sich bereit. Ich melde mich, sobald alles in die Wege geleitet wurde.“

„Verstanden.“ Antwortete die Stimme. Eine kurze Pause entstand, in der er nur einem nervigen Ticken durch die Leitung lauschte. Dann legte der Anrufer auf.


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Ein Unwetter braute sich zusammen. Dunkle Wolken hingen schwer drückend über ihnen als sie über den verlassenen Highway fuhren. Einen Menschen so weit außerhalb aller Siedlungen zu treffen, schien unmöglich zu sein.

Anna lächelte zufrieden. Sie hatte es geschafft, dass Samuel sie fahren ließ. Er argumentierte es damit, dass auf den Straßen nach Anchorage Verkehr selten wäre und deshalb gerne sie das Steuer übernehmen durfte.

Aber Anna wusste, dass es viel Überwindungskraft für einen Menschen kostete, der gerne die Kontrolle behielt. Und genau diese Kontrolle entriss sie ihm Stück für Stück. Angefangen damit, dass sie auf verlassenen Straßen herumfuhr. Sie sah ihn als einen Patienten in ihrer Praxis, dessen Gedanken sie nach und nach verstehen und lesen konnte.

„Zu weit links.“

Sie hob fragend eine Augenbraue.

„Du fährst zu weit links. Was, wenn uns gleich auf der gegenüberliegenden Spur jemand entgegenkommt?“ Er rutschte unwohl auf dem Sitz hin und her.

„Uns ist in der letzten Stunde nicht ein Auto begegnet. Ich denke das wird so die nächste Zeit auch bleiben.“ Auf den Londoner Straßen zu fahren war um einiges schlimmer, aber sie behielt diesen Gedanken lieber für sich.

„Außerdem fährst du exakt nach Geschwindigkeit.“

„Und?“

„So bin ich das letzte Mal bei meiner Fahrprüfung gefahren. In diesem Schneckentempo erreichen wir Anchorage erst in zwei Tagen.“ Konterte er, doch ihr entging nicht das freche Grinsen in seinem Mundwinkel. Er wollte sie so lange kritisieren, bis sie ihn wieder fahren ließ. Anna ergriff das Lenkrad fester und beschleunigte. Schnee wirbelte unter den Rädern auf.

Sie bremste erst leicht ab, als sich rechts von ihnen ein steiler Abhang bis in die Böschung hinunter auftat.

Es war leichtsinnig bei diesen Straßen schnell zu fahren. Auch wenn sie auf die Antworten der ehemaligen Anwältin der O’Connor Property Group gespannt war.

„Der richterliche Beschluss für Polly Dunn ist da. Hofman und Hudson haben gestern Abend ihre Wohnung durchsucht.“ Erzählte Samuel von dem Telefonat mit Lars Hofman.

„Hat man einen Hinweis auf die Entführung entdeckt?“

Er schüttelte enttäuscht den Kopf. „Es war alles sauber. Polly hat uns die Wahrheit gesagt. Sie wusste nichts von der Entführung in die ihr Freund verwickelt war.“

Anna wurde von einem unregelmäßigen schwachen Leuchten abgelenkt. Erst als sie im Rückspiegel die Scheinwerfer wahrnahm, erkannte sie ein unscheinbares Auto hinter sich. „Wie du siehst gibt es doch Einheimische, die sich bei diesem Wetter auf die Straßen trauen.“

Sam drehte sich neugierig um. „Das wage ich stark zu bezweifeln.“

„Wieso?“

„Das Auto fährt etwa doppelt so schnell wie wir. Also ist es entweder ein geisteskranker Einheimischer oder ein naiver Tourist.“

„Das werden wir bald erfahren.“ Im Spiegel beobachtete sie, wie sich das Auto ihnen näherte.

Mit einem Mal richtete Samuel sich auf und sah ein zweites Mal nach hinten. „Anna, fahr schneller.“

„Ich habe schon gesagt, dass ich nicht auf deine Sticheleien eingehen werde.“ Ärgerte sie sich.

„Fahr schneller, wenn du keine Bekanntschaft mit dem hinter uns machen möchtest. Meine Waffe liegt hinten im Kofferraum.“

Die plötzliche Ernsthaftigkeit in seiner Stimme erschreckte Anna. „Warum brauchst du sie?“

„Weil hinter uns das gestohlene Auto der Leihfirma fährt. Es hat dasselbe Nummernschild und passt auf die Beschreibung.“

Das Blut in ihren Adern pulsierte. Wie in Trance drückte sie auf das Gaspedal, während der Abstand sich gefährlich schmälerte.

Der Wagen war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt und einen Augenblick später durchfuhr ein heftiger Stoß Annas Körper. Zengji versuchte sie von der Straße zu drängen!

Instinktiv lenkte sie nach links, doch er ließ ihr keine Wahl und drückte sie langsam dem Abgrund entgegen.

Reifen quietschten, Metall knirschte und durchbrach damit die idyllische Ruhe der Natur. Mit aller Kraft hielt Anna das Lenkrad fest. Sie hörte wie betäubt Samuels Aufforderung, schneller zu fahren, sah seine Hand, die an das Steuer griff und sie unterstützte und dann erkannte sie den Fahrer des Jeeps, der sich auf gleicher Höhe befand. Sah das eiskalte Lächeln im bleichen Gesicht Zengji’s, die Narbe auf der Nase, die ihn verriet, bevor sein Arm sich blitzschnell vom Lenkrad löste und ein Schuss die Scheiben splittern ließ.

Die Welt um Anna wurde schwarz und sie verlor den Kampf gegen den Abgrund.

Zorn des NordensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt