Ich

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Ich hätte niemals gedacht, dass mir etwas Derartiges passieren könnte. Doch als ich erwachte, sah ich es klar vor mir: Mein Spiegelbild.
Und es starrte mich an, bohrte mit seinen Augen mitten in meinen Kopf. Ich glaubte, endlich die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, die mich seit langem plagte. Doch fanden die Worte nicht den Weg durch meine Gedanken, um meine Lippen zu verlassen. Die Gedanken fühlten sich in meinem Kopf an, als wären sie graue Matsche. Und ich spürte, wie etwas in meinem Inneren nach mir griff, mich in seinen Bann zog.
Ich musste raus aus dieser Situation, bevor sie mich nicht mehr los ließ.
Also stürzte ich urplötzlich aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Es war mir egal, ob ich die anderen damit weckte. Rücksichtlos donnerte ich die Treppe hinunter und hörte, wie der Sturm draußen immer lauter wurde. Es war mitten in der Nacht, doch ich ignorierte jeden gesunden Menschenverstand und verschwand zur Tür hinaus.
Der Regen prasselte auf meine nackten Arme wie Nadelstiche. Die Straße war wie von Menschen verlassen. Es war zu perfekt, um wahr zu sein: Direkt vor mir befand sich das alte Fahrrad, das Onkel Lutz vor Ewigkeiten in die Hecke vor dem Haus geworfen hatte.
Ich zerrte es aus dem Gebüsch – beinahe hörte ich seine Stimme in meinem Kopf – schwang mich auf den Sattel und radelte los. Mein Ziel hatte ich klar vor Augen: Die große Brücke am Rande der Stadt.
Eine Brücke, die mir schon in meiner frühen Kindheit merkwürdig vorgekommen war. Denn sie nannten sie die Geisterbrücke. Und genau das war es, wonach ich all die Zeit gesucht hatte.
Die Stimme meines Onkels drang immer mehr in mein Bewusstsein, je näher ich der Brücke im Dunkeln kam.
Denn er war derjenige gewesen, der damals auf wundersame Weise verschwunden war, nachdem er mir offenbart hatte, dass er die Stimmen der Wanderbrücke hören konnte.
Nachdem ich auf die Brücke geklettert war und am Geländer stand, schloss ich meine Augen.
Er hatte nicht gelogen.
Ich spürte, wie unsichtbare Hände nach mir griffen und mich dazu verleiteten, über das Geländer zu steigen. All die Jahre über hatte ich geglaubt, mein Onkel war verrückt und doch stand ich nun hier und war vom Gegenteil überzeugt.
Ich ließ mich von den Griffen leiten, hörte meinen Onkel, wie er mich darum bat, zu ihm zu kommen. Ich wusste nun endlich, was zu tun war: Langsam beugte ich mich vor und lockerte den Griff um das Eisengeländer. Sie riefen mich, genauso wie sie ihn gerufen hatten, zogen mich immer näher und näher gen Abgrund.
Ein letztes Mal schluckte ich einen Kloß hinunter und konzentrierte mich auf die Regentropfen, die mich weiter von der Brücke schoben.
Gerade, als ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, die Augen geschlossen, packte mich etwas am Handgelenk.
Es war mein Spiegelbild.
Mir gefror der Atem. Ich begann zu zittern. Ich starrte mir selbst in die Augen. Denn dahinter war etwas, das mir sagte: Tu es. Jetzt. Bevor ich es tue.
Also atmete ich tief durch und ließ das Geländer los.
Im Wasser des Flusses, der mir entgegen kam, sah ich sein Gesicht.
Er lächelte.

IchWhere stories live. Discover now