Prolog

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Tag 72
Mittwoch, 10:02

Wo mein Atem das Glas berührt, bilden sich feine Wassertröpfchen. Gedankenverloren presse ich beide Handflächen gegen die kühle Scheibe. Beinahe, als könne ich durch sie hindurch geradewegs in den tödlichen Himmel greifen. Am Horizont lässt sich ein Zipfel des unentwegt brennenden Festlandes erahnen. Noch immer ziehen dichte Rauchfahnen von dort aus über unsere Kuppel hinweg. Nach einer stürmischen Nacht ruht die schimmernde See nun wieder als glatte graue Wüste um uns herum. Der Wasserspiegel ist im Laufe der letzten Woche stetig gestiegen. Meiner Routine folgend habe ich nach dem Aufstehen zunächst die roten Linien kontrolliert. Seit heute sind es drei, die ab dem Tage unserer Ankunft geräuschlos vom Meer verschlungen wurden. Noch eine weitere, bis es die oberste Grenze erreicht hätte.

„Ich dachte irgendwie, wir gehen unter wie alle anderen auch", teile ich dem leise zu mir getretenen Jungen mit. Ohne einen Blick habe ich seine weichen Schritte erkannt. Auf dem erdigen Untergrund ist er der einzige, der sich annähernd lautlos bewegt. Den Anderen ist es gleich, gehört zu werden. „Ob es das besser machen würde?", seine Frage erfordert keine Antwort. Er stellt sie mit dem selben ausdruckslosen Tonfall, der auch meinen Worten innen liegt. Jener Gleichgültigkeit, wie sie nur wir empfinden können. Wir, die alles überlebten. Unsere Welt, die Menschheit, selbst die Hoffnung. Und das nur, um am Ende dennoch zu sterben.

Sieben SündenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt