Tag 1
Samstag, 15:14"Sie sollten schon hier sein." Mit zitternden Fingern nestelt Maya an den ausgeleierten Ärmeln ihres Pullovers. Wortlos halte ich sie davon ab, noch weitere Fäden aus dem Stoff zu ziehen. Während meine Hände sich um ihre kleineren Fäuste legen, wirft sie mir einen besorgten Blick zu. Es gelingt mir nicht auszusprechen, was sie von mir erwartet: Alles wird gut. Die Beschwichtigung bleibt mir im Hals stecken. Also nicke ich nur bedeutsam. "Das Flugzeug macht bestimmt einen Umweg", versucht meine Schwestern erneut, mir eine Bestätigung zu entlocken. Vergeblich. Mir ist bewusst, wie mein Schweigen ihre Sorgen intensiviert. Doch meine Zunge liegt zu schwer in meinem trockenen Mund, als dass die Lügen mir leicht über die Lippen gehen würden. Stattdessen richte ich mich langsam auf, drücke meinen verspannten Rücken durch und weise Maya an, es mir gleich zu tun. "Komm, wir laufen ein Stück."
Von unserem Beobachtungsposten aus wenden wir uns in Richtung der Ansammlung von Holzhütten, welche unser neues Zuhause darstellen sollen. Einem schmalen Trampelpfad folgend durchqueren wir das künstliche Wäldchen der Insel. Wie gehofft bringt die tropische Pflanzenvielfalt immerhin eine von uns auf andere Gedanken. Mich beeindrucken die gigantischen Blüten der Dornensträucher wenig. Alles was ich sehe ist eine verzerrte Erinnerung an unsere zerstörte Erde. Im süßlichen Duft der unnatürlich schnell gewachsenen Lianen schmecke ich das vergangene Echo weiter Rapsfelder. Jedes Zwitschern der zur Perfektion gezüchteten Vögel klingt zu hohl in meinen Ohren. Im Gegensatz zu Maya habe ich meine Kindheit im Schatten uralter Eichen verbracht. Ich habe barfuß im Schlamm unzähliger Pfützen getanzt, bevor der Regen nur noch auf verbrannte Erde traf. Wenn ich mich konzentriere, kann ich manchmal noch die letzten warmen Strahlen der Abendsonne auf meinen Armen fühlen. Von Zeit zu Zeit erwische ich mich, wie ich sehnsüchtig auf die brennende Kugel über uns starre. Für mich war es damals schwer zu begreifen, dass sich ihr verheißungsvolles Leuchten beinahe über Nacht zu einer tödlichen Gefahr gewandelt hatte.
Als sich nach einer Weile der Wald um uns lichtet, verharren wir noch einen kurzen Moment. Vom Rand des Dorfes dringen aufgebrachte Stimmen zu uns. Eigentlich kann ich gut auf eine Begegnung mit den Anderen verzichten. Es ist Maya, die schließlich drängt: "Jade, worauf wartest du? Vielleicht gibt es Neues!" Damit marschiert sie schnurstracks dem Zentrum des Lärms entgegen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr auf den Versen zu folgen. Schon von weitem hebt sich eine Stimme deutlich von den anderen ab. Jemand versucht offenbar, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: "Hey! Leute!" Das wirre Durcheinander an Rufen lässt jedoch nicht nach. Erst mit unserem Erscheinen auf dem freien Platz in der Mitte des Dorfes ebbt das Geschrei ein wenig ab. Während ich noch versuche, einen Überblick zu erlangen, werde ich von hinten grob an der Schulter gepackt. "Collins?", brüllt jemand so dicht an meinem Ohr, dass ich unwillkürlich zusammenfahre.
"Was?", gebe mit ebenfalls erhobener Stimme zurück. Noch aus dem Augenwinkel erkenne ich die stämmige Gestalt. Widerwillig drehe ich mich zu ihm. Inzwischen sind sämtliche Gespräche verstummt. "Jade Collins? Bist du doch?", auf dem rot angelaufenen Gesicht bilden sich zwei deutliche Ärgerfalten. Meine düstere Ahnung bezüglich seiner Anwesenheit auf dieser Insel bestätigt sich zu meinem Bedauern. Unsere Väter haben schon bei früheren Projekten in Kontakt gestanden und uns bei einem Treffen bekannt gemacht. "Was willst du?", präzisiere ich meine Frage mit nachdrücklichem Schnalzen. Da schiebt sich ein blondes Mädchen grob zwischen uns. Kurzweilig belustigt bemerke ich, wie sie meinem Gegenüber dabei mit einem spitzen Hacken auf die Füße tritt. "Titus denkt", setzt sie außer Atmen an, "Dein Dad hat gar nicht vor, unsere Familien herzubringen!" Nach den Ausführungen stützt sie beide Arme in die Seiten.
Auch wenn ihr Tonfall vor Verächtlichkeit strotzt meine ich einen Funken Angst in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Der Knoten in meinem Magen zieht sich heftig zusammen. "Und du bist?", lenke ich hastig ab, bevor man mir die Übelkeit ansehen wird. Die Blonde mustert mich ausgiebig bevor sie antwortet. "Nava. Und ich würde wirklich gerne hören, was du dazu sagst", auffordernd deutet sie mit dem Kopf zu Titus. Um ihrem bohrenden Blick auszuweichen schiele ich unauffällig zu Maya hinüber. Deren aufrichtig vertrauensvoller Ausdruck treibt einen nächsten schmerzhaften Stich durch meine Bauchgegend. Zu tun, was nötig ist, wird schwerer als ich es mir vorgestellt habe.
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Sieben Sünden
Misterio / Suspenso"Sie nannten es ein Geschenk. Aber alles, was wir bekamen, war ein langsamer Tod." - Es ist der letzte Triumph einer Gruppe hochrangiger Wissenschaftler: Unter einer Rettungskuppel ermöglichten sie ihren Kindern, das Ende der restlichen Welt zu übe...