Steindrache
Leise zog sich Ero hinter die Büsche zurück. Von seinem Versteck aus beobachtete er die anderen Kinder, die sich um Bren geschart hatten, der, wie so oft, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Er hatte sich selbstbewusst in der Mitte der kleinen Lichtung vor ihren Hütten plaziert und berichtete von seinem jüngsten Jagderfolg. Besonders die Jüngeren warfen ihm bewundernde Blicke zu, als er jetzt den erlegten Vogel demonstrativ in die Höhe hielt, damit auch der Letzte sehen konnte, wie gut er mit der Energieschleuder traf.
Es war ein Regenpfeifer. Als Jagdbeute untauglich - davon abgesehen, dass der Vogel gerade mal ein paar Gramm auf die Waage brachte, war das Fleisch viel zu zäh zum Essen - konnte er einzig dazu dienen, das Ego von Bren weiter aufzupolieren. Ero konnte diesen neunmalklugen Angeber nicht ausstehen. Es mochte sein, dass er einer der Besten mit der Schleuder war, aber er war der Einzige, der seine Jagderfolge so öffentlich zelebrierte. Dass es eigentlich verboten war, diese harmlosen, kleinen Vögel zu jagen, schien seine überwiegend jüngere Zuschauerschar nicht zu stören. Besonders die Mädchen hingen förmlich an seinen Lippen, während Bren, nach seinen theatralischen Gesten zu urteilen, von einem wohl sehr gefährlichen Jagdabenteuer berichtete. Wahrscheinlicher war, dass der Vogel ihm direkt vor die Füße geflogen war, während er nichts anderes getan hatte, als faul herumzusitzen. Vielleicht war das Tierchen auch krank gewesen. Oder bereits tot. Bren traute er alles zu.Niemand schien sein Verschwinden bemerkt zu haben und Ero drehte sich um und machte sich auf den Weg zu seinem geheimen Trainingsplatz.
Die anderen Kinder und auch die Erwachsenen mieden diesen Ort. Es kursierten allerlei unheimliche Geschichten darüber. Es hieß, dass der steinerne Drache von Zeit zu Zeit erwachte und jeden verschlang, der dann in seiner Nähe war; die Gesichter der Opfer könnte man in der Felswand sehen. Und man machte den steinernen Drachen für alle je spurlos verschwundenen Dorfbewohner verantwortlich. Aber auch in anderen Dörfern verschwanden gelegentlich Leute, und dort gab es keinen steinernen Drachen, dem man dafür die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Wahrscheinlicher war, dass sie von irgendwelchen wilden Tieren gefressen wurden. Von den großen, gestreiften Waldkatzen zum Beispiel. Oder der grünen Wasserschlange. Es gab immer wieder entsprechende Vorkommnisse, und wenn die Wasserschlange ein Opfer verschlang, auch mit Sicherheit keine Spuren.
So gab Ero wenig auf das Gerede.Er hatte sein Ziel erreicht und betrachtete die halb zwischen Gestrüpp und Bäumen verborgene Felswand. Es war der ideale Platz zum trainieren: An der Wand konnte er klettern üben und entlang der Felswand gab es eine bewuchsfreie Zone, die genug Platz für sein Schießtraining bot.
Wie immer blickte er zuerst auf den steinernen Drachen auf halber Höhe der Felswand. Es war nur wenig Fantasie nötig, um in der Gesteinsformation einen Drachen zu erkennen. Er sah einen mächtigen Schädel, der auf einem Felsvorsprung ruhte, kräftige Klauen mit denen sich der Drache an den Vorsprung klammerte, einen langen Schwanz und in den Felsen direkt darüber konnte man einen großen, halb gefalteten Flügel erahnen.
Heute erschien ihm der Drache noch deutlicher als das letzte Mal. So, als hätte er sich ein Stückchen weiter aus dem Fels herausgearbeitet, und Ero konnte sich einer gewissen Beklemmung nicht erwehren. Er schüttelte den Kopf. Unsinn. Der Drache war aus Stein, aus solidem, leblosem Stein und konnte seine Form nicht einfach verändern. Es lag sicher am Licht; heute war er etwas später als sonst hierher gekommen und die längeren Schatten ließen den Drachen plastischer erscheinen.
Er richtete den Blick auf den Boden, um nach einem geeigneten Ziel für seine Schießübungen zu suchen, ohne den steinernen Gesichtern auf der anderen Seite der Felswand einen Blick zu gönnen. Die Gesichter waren lange nicht so beeindruckend wie der Drache und es brauchte erheblich mehr Fantasie, um sie als solche zu erkennen.
Direkt vor dem Überhang, unter den er sich bei schlechtem Wetter zurückzog, lagen mehrere geeignete Steinbrocken herum und Ero bückte sich danach. Die Steine waren beim letzten Mal noch nicht dagewesen. Er warf einen skeptischen Blick nach oben. Drohte etwa ein größerer Felssturz? Er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Dann fiel ihm das Gewitter vom Vorabend ein. Wahrscheinlich hatte der heftige Regen die Steine gelöst.
Er trug sie unter den Überhang und legte sie gleich neben seinem Nussvorrat vor die Wand. Dann platzierte er einen davon auf dem winzigen Vorsprung an seiner Zielwand. Um den Vorsprung herum war der Fels von seinen Fehlschüssen geschwärzt. Er grinste. Fehlschüsse kamen inzwischen kaum noch vor und er war sich sicher, dass er Bren schlagen würde.
Als nächstes zog er seine Eneggieschleuder aus ihrer Scheide an seinem Gürtel und überprüfte den Kristall. Alles in Ordnung. Der tropfenförmige Kristall saß bombenfest in der Halterung des rinnenförmig ausgehöhlten Stöckchens. Zufrieden steckte er sie zurück. Das Training konnte beginnen. Zum Auftakt machte er ein paar Dehn- und Streckübungen, dann puderte er seine Hände, um nicht abzurutschen. Zuletzt holte er die große Sanduhr unter dem Überhang hervor und drehte sie um.
Dann begann er zu klettern. Heute über die schwierige Route direkt neben dem Drachenkopf. Es galt, so schnell wie möglich nach oben und wieder herunterzuklettern und danach auf mindestens fünfzig Schritte das Ziel zu treffen - und das schneller und besser als Bren.
Die Kunst dabei war, schneller als die anderen zu klettern und hinterher noch genug Atem und Kraft zu haben, um den Kristall zu laden und ruhig zielen zu können.
Als er den Drachenkopf passierte, glaubte er ein leises Grollen zu vernehmen. Braute sich schon wieder ein Gewitter zusammen? Doch als er oben angelangt war und nach Gewitterwolken Ausschau hielt, konnte er nur blauen Himmel und ein paar harmlose weiße Wölkchen sehen.
Schnell richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf den Fels und machte sich an den Abstieg.
Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, griff er nach seiner Energieschleuder. Während er langsam zu seinem Abschussplatz hinüberging, stimmte er sich auf den Ladevorgang ein und konzentrierte sich auf seine Atmung. Es war wichtig, sich dafür genügend Zeit zu nehmen. Besonders die jüngeren Teilnehmer vernachlässigten oft die Konzentrationsphase und bezahlten das mit einer endlos langen Ladezeit oder mit einem wirkungslosen Schuss.
Ero war so mit sich beschäftigt, dass er nicht bemerkte, dass er Gesellschaft bekommen hatte: Fila war aus dem Dickicht des Waldes getreten. Ihre Augen strahlten, als sie Ero entdeckte. Um ihn nicht abzulenken, blieb sie still am Rand der Lichtung stehen.
Als Ero den Abschussplatz erreicht hatte, atmete er bereits ruhig und gleichmäßig. Er nahm die Schleuder, legte sie mit dem Kristall nach oben auf seine übereinandergelegten Handflächen und konzentrierte sich auf den durchsichtigen Kristall. Fast sofort begann sich dieser von innen heraus Blau zu färben. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. So schnell wie er, konnten nur wenige junge Schützen den Kristall laden.
Als der Kristall dunkelblau leuchtete, hörte er auf, Energie auf ihn zu übertragen. Er richtete die Schleuder der Länge nach auf seiner rechten Handfläche aus, streckte den Arm auf Augenhöhe in Richtung seines Zieles und konzentrierte sich auf den Stein. Kaum eine Sekunde später löste sich ein blauer Lichtschein aus dem Kristall, wanderte durch die Rinne der Schleuder und flog als blauer Lichtblitz auf das Ziel zu. Volltreffer. Der Stein zersprang mit einem leisen Knall in tausend Stücke.
Ein lauter Beifallsruf ließ Ero den Kopf drehen und endlich sah er Fila, die jetzt langsam zu ihm herüberkam.
In diesem Augenblick hörte er wieder ein leises Grollen. Auch Fila hörte es und blickte zum Himmel. Als sie nichts entdecken konnte, was auf ein Gewitter hindeuten könnte, zuckte sie mit den Schultern und widmete ihre Aufmerksamkeit der Sanduhr.
Ero hatte diese bereits hochgenommen und markierte den Sandspiegel mit einem Stift. So weit oben hatte er den Strich noch nie ziehen können.
Freudestrahlend hielt er Fila die Sanduhr hin.
"Schau! Ich werde immer schneller. Ich werde Bren schlagen!"
Fila nickte nur.
"Es ist schon spät. Wir sollten besser zurückgehen, sonst wirst du noch vermisst."
Ero grinste. "Du wohl nicht?"
"Ich habe mich abgemeldet." Sie hielt ihm einen kleinen Stoffbeutel entgegen, der zur Hälfte mit Beeren gefüllt war.
Er streckte die Hand, um zu naschen, aber Fila schlug ihm auf die Finger.
"Finger weg! Die sind für Tante Selma."
"Du bist gemein. Ich brauche die Beeren viel dringender als deine Tante. Was meinst du, wie anstrengend das Training ist?"
Fila lachte.
"Gib nicht so an! Außerdem wäre es verdächtig, wenn ich zum Beerensammeln gehe, und ohne zurückkomme."
"Nur ein paar!", bettelte Ero und Fila gab nach und ließ ihn einmal in das Säckchen greifen.
"Ich bin stolz auf dich", meinte sie, während sie zum Dorf zurückgingen. "Es ist dein allererster Wettbewerb. Aber du bist sogar besser als Bren. Und das, obwohl er ganze drei Winter älter ist als du."
"Ja, er ist schon das vierte Mal dabei. Und letztes Jahr hat er gewonnen." Er reckte die Brust. "Aber jetzt habe ich auch meine dreizehn Winter hinter mir."
"Andere hätten vielleicht noch ein Jahr gewartet, wenn sie so knapp vor der Wintermitte geboren wären, wie du."
"Glaubst du nicht, dass ich Bren schlagen kann?"
"Doch! Du schaffst das! Ich geb' dir alle meine Energie, wenn es soweit ist." Sie waren beim Dorf angekommen. Ero sah sich kurz um, dann gab er Fila einen feuchten Kuss auf die Wange.
"Danke dafür", sagte er und ehe sie reagieren konnte, war er hinter der nächsten Hütte verschwunden.
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Mein Beitrag zum #ideenzauber 2019
FantasyDies ist mein Beitrag zum award #ideenzauber von @Hesthena Der Award ist vorbei, übrig ist die Geschichte, die nun ein Titelbild tragen darf. Ero trainiert für einen Wettbewerb. Er gibt wenig auf die Geschichten, die über seinen Übungsplatz erzählt...