Der letzte Tag

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Ich hörte nichts, außer ein paar Raben, die draußen krächzten. Dann noch das hallende Geräusch von Tropfen, welche immer wieder in eine Pfütze fielen.
Mir war kalt, unseglich kalt. Wie spät es war, wusste ich nicht. Wie lange ich hier schon gefangen war, wusste ich ebenso nicht. Ein verzweifeltes seufzen entfleuchte mir, als ich meine Arme um meine Knie schlang und sie nur dichter an meinen Körper zog. Es fühlte sich schon so an, als würden meine Finger vor kälte absterben. Es war tiefer Winter. Schnee lag auf den Wegen der Stadt. Ich mochte den Winter eigentlich nicht. Die Landschaften wirkten wunderschön, doch es gab nicht ausreichend zu Essen. Die Leute verhungerten, wurden Krank oder erfroren. Der Winter war hart. Jedes Jahr aufs Neue. Dieser Winter war mein letzter Winter. Ich würde nie wieder sehen, wie die ersten Schneeflocken des Jahres hinunter rieselten und alles in ein schönes Weiß legten. Ich werde nie wieder miterleben, wie die kalte und harte Jahreszeit vorbei geht, der Schnee schmilzt und die ersten Blüten der Streucher und Bäume zu sehen war. Wie die Vögel zurück kamen und man von dem Gezwitscher geweckt wurde.
Das alles würde ich nicht mehr erleben.

Mir wuchs ein dicker Kloß im Hals.
Ich, ein Gehobener aus einer Adelsfamilie, wurde gehängt. Noch heute. Wenn die Glocke schlug, würde der Hänker den Hebel umlegen, genau um Zwölf Uhr. Ich war kein Verbrecher. Für mich war ich es nicht, für einige meines gleichen auch nicht. Doch es war ein Vergehen, einen Mann zu lieben. Mein geliebter, mein wundervoller geliebter. Er saß in einer anderen Zelle, hier im Keller des Wachhauses. Er würde am folgenen Tage hingerichtet. Am selben Strick, der auch um meinen Hals gelegt wurde.

Die Geräuschkulisse vom Tropfen und der Raben wurden von schweren Schritten unterbrochen. Gleich darauf folgte das metallische Rascheln eines Schlüsselbundes. Direkt vor meiner Zellentür. Ich blickte hoch, noch immer zusammengekauert gegen die kalte, nasse Wand aus Stein. Die Tür wurde geöffnet. Das laute quietschen, welches sie von sich gab, ging durch Mark und Bein.

"Aufstehen", sagte der Mann, der eine lange schwarze Kutte trug. Ich schluckte. Es schien meine Zeit zu sein. Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf und sah in die blauen Augen meines Gegenübers. "Umdrehen." Er schaute mich abwertend an, als er mir den Befehl gab, den ich ohne zu zögern befolgte. Widerstand hatte keinen Zweck. Er war groß, viel größer, als ich. Viel breiter gebaut, als ich. Ich war klein und schmächtig. Vermutlich könnte er mir ohne Probleme meine Arme brechen.

Der Mann, mein Henker, legte mir eiserne Ketten um meine Handgelenke rum, die ich an meinem Rücken halten musste. Dann griff er die Kette. "Mitkommen." Er zog an ihr, riss mich mit. Es tat an meinen Gelenken weh. Unbeholfen stolperte ich neben dem großen Mann her, den Gang an den unzählige Zellen vorbei. In einer von ihnen war mein Geliebter. Er wusste, wenn er den Glockenklang hörte, war ich nicht mehr am Leben.

Ich wurde die Treppe hinauf geführt, durch die große Eingangshalle, hinaus in die Kälte. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, wodurch mein Haar umher flog. "Na los." Der Mann, der seine Pranke immernoch an der Kette hielt, schubste mich leicht nach vorn, damit ich etwas schneller ging.
Von weitem erkannte ich schon die Menschenmenge, die um den Galgen stand. Mein Henker führte mich genau in ihre Richtung. Es schien, als würde sich jeder zu mir drehen, mich anstarren. Als könnte ich ihre Gedanken hören, wie sie sich vor mir ekelten. Und tatsächlich kamen von vereinzelten Personen abwertende rufe. "Hängt ihn auf", schrie eine Frau. "Abschaum", ein Mann. In meine brennenden Augen stiegen erneut Tränen. Ich verspürte nur Angst und Verzweiflung. Es war ein furchtbares Gefühl vor der halben Stadt bloßgestellt und dann gehängt zu werden. Mit gerade mal zweiundzwanzig Jahren. Wegen einem Verbrechen, was kein Verbrechen sein sollte.

Zitternd stieg ich die sechs Stufen hoch, um auf das Podest zu kommen. Der Henker schob mich auf die Lucke, die unter meinen Füßen aufklappen würde. Ich blickte verängstigt in die Gesichter der Menschen, die um den Galgen standen. Sie waren hier, um mich sterben zu sehen. Um mich hängen zu sehen.

Ohne ein weiteres Wort, stülpte mir mein Henker den braunen Stoffsack über den Kopf. Meine Angst wurde nun noch größer. Tränen rollten mir die Wangen herab und mein ganzer Körper schien zu beben. Ich sah die Menschen nicht mehr. Der Sack hatte meinen Blick in schwarz gehüllt. Und nun spürte ich, wie mir der Strick über den Kopf gezogen wurde, um meinen Hals herum.

Nun war es still um mich. Das gemurmel der Menschen war nur dumpf zu hören. Und selbst die Stimme des Richters, hörte ich, als würde mein Kopf Unterwasser sein. Ich hörte am stärksten mein eigenen Atem, den ich fast nicht mehr kontrollieren konnte.

Die Minuten, die ich dort stand, vor all den Leuten, mit dem Strick um den Hals, zogen sich zu einer Ewigkeit. Mein Vergehen wurde nochmal vorgetragen, was ich selbst aber kaum verstand. Nur das gejubel, als meine Strafe erneut verkündigt wurde, stach mir in den Kopf, wie ein Messer.

Und dann hörte ich die Kirchenglocke schlagen, ein knarrendes Geräusch. Unter meinen Füßen ging die Lucke auf und ich spürte, wie ich nach unten fiel und das Seil sich fest um meinen Hals schnürte, ich nicht mehr atmen konnte und anffing zu zappeln, bis ich letztendlich starb.

Der Henker /GLP O'sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt