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Es wird Zeit

ANNABELLE STARRTE DIE Decke an

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ANNABELLE STARRTE DIE Decke an. Die Fresken waren gräulicher als sonst. Entweder musste sie renoviert werden, oder es war heute dunkler als sonst. Ihr Kopf drehte sich unter großer Anstrengung zum Fenster und keuchend schlug sie ihre Augen auf. Sie juckten und brannten, doch sie hatte nicht genug Kraft, sie zu reiben. Manchmal, wenn es nicht mehr auszuhalten war, musste es jemand anderes für sie tun. Ihre Cousine zum Beispiel. 

Ihre Augen öffneten sich einen Spalt breit. Zu mehr war sie nicht imstande. Die grauen Wolken verdeckten den Himmel und ließen alles trüb aussehen. Doch dahinter verbarg sich die Sonne, das durfte sie nicht vergessen.

Noch ein Stück bewegte sie ihren Kopf, um auf die tickende Uhr an der Wand blicken zu können. Es wurde Zeit. Unter Schmerzen hob sie ihre Hände an und schob ihre Decke zurück. Kalter Wind wehte durch das offene Fenster und ihr Himmelbett wurde zu einem Höllenbett. Gefangen in einem riesigen Rechteck, an das sie bis zum Ende ihres Seins gebunden war. Ein starker Gedanke, doch so viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Zitternd und bebend fiel sie in ihr weiches Gefängnis zurück.

"Eva!", rief Annabelle und ein kurzes Poltern war durch ihre offene Tür zu hören. Es echote durch die Villa und hallte zwischen den dicken Mauern tausendfach wider. Sie hörte das eilige Tapsen ihrer Cousine, die die steinernen Treppen hinaufstieg.

Eva brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie im Zimmer angelangt war. Die Uhr tickte. Mit einem prüfenden Blick sah sie auf die ungeduldigen Zeiger. Es kam ihr vor, als würden sie vor ihr wegrennen. Eilig versuchte sie sich aufzurichten, doch sie schaffte es nicht. Schnaufend sah sie zur Tür und registrierte, dass ihre Cousine hier war. Ein fernes Knarren war zu hören und leise Stimmen murmelten vor sich hin. Wahrscheinlich würde ihr auch der Rest ihrer Familie einen Besuch abstatten. 

Rasch lief Eva zu ihr und stellte den Rollstuhl bereit. Annabelle kroch zur Bettkante und versuchte, selbstständig auf das elende Ding zu klettern. Sie erblickte ihre bleichen Hände, die hilflos danach griffen. Letztendlich musste ihre Cousine sie keuchend unter ihrem Gewicht hinüberhieven. Es war immer dasselbe. Sie war auf andere angewiesen und daran konnte sie nichts ändern. Ganz im Gegenteil. Je mehr Zeit verging desto schlimmer wurde es. Ihre glasigen Augen huschten durch den Raum und blieben bei der Uhr hängen.

"Ich will zum Fenster", verlangte Annabelle und deutete mit dem Kopf zum mickrigen Quadrat, das ihr einen Blick auf graue Wolken bot. Einzelne Tropfen lösten sich vom Himmel und fielen auf die Erde herab. Eva nickte und schob sie die wenigen Meter, die sie selbst nicht mehr bewältigen konnte. Die Schritte wurden lauter und der Rest ihrer Familie betrat ihr riesiges Zimmer. Es war ihr nie so groß vorgekommen, wie es letztendlich war. Erst, als sie es nicht mehr brauchte und nutzte, wurde ihr der Luxus bewusst. Es war unnötig. Sie brauchte nur das Bett. Die vielen leeren Quadratmeter Boden konnte sie nicht mehr alleine betreten.

Annabelle wandte sich ihrer Familie zu und sie liefen augenblicklich langsamer. Ihre Hände waren verschränkt und die Blicke gesenkt. Rasch sah sie wieder weg. Sie betrachtete die Wolken und tat so, als würde sie der hässliche Himmel interessieren. Im Moment war er das Interessanteste. 

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