Prolog

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Die Person, die vor mir aufgerufen wurde, nahm stolz ihr Zeugnis entgegen und hielt es mit einem fetten Grinsen in die Luft. Er wurde von unseren Klassenkameraden bejubelt, so als hätte er gerade den Friedensnobelpreis und kein einfaches Abschlusszeugnis erhalten. Er warf Kusshände in die Menge, ehe er den Lehrern, die weiter hinten in einer Reihe saßen, einen Mittelfinger widmete und dann unter Gröllen der anderen Teenager die Bühne verließ. Der Direktor schüttelte nur den Kopf, ein Lächeln auf den Lippen.

Die Stimmung im Raum änderte sich jedoch, als mein Name aufgerufen wurde. Kaum hatte das Wort "Alicia" seine Lippen verlassen, wurde es plötzlich still im Raum. Meine Klasse, die eben noch vor lauter Übermütigkeit laut geschrien und geklatscht hatte, wurde sofort stumm. Die anderen Teenager, die meine Situation wohl mitbekommen hatten, sahen sich peinlich berührt an. Ich sammelte die letzte Kraft, die ich noch hatte, und stand auf, um mich, so schnell es ging, auf die mit gold geschmückte Aula-Bühne zu begeben.

Auf dem Weg dahin wurde mir langsam bewusst, dass heute das letzte Mal sein würde, in der ich diesen Raum betreten würde. Sobald ich dieses verdammte Stück Papier, für das ich so hart gekämpft hatte, in der Hand halten würde, war es vorbei.

Ich hörte, wie die Stille von dem Jungen, der vor mir dran war, unterbrochen wurde. Er sagte etwas zu seinem Kumpel, der laut loslachte. Langsam ging ein Raunen durch die Menge, weshalb ich mein Schritttempo verdoppelte. 

Ich stieg hastig die kleine Treppe, die zur Bühne führte, hoch und blieb vor meinem Direktor stehen. Er schenkte mir einen Blick, den ich nicht ganz deuten konnte, ehe er mir mein Zeugnis hinhielt. Es fühlte sich an, als würde er mir seinen kostbarsten Besitz hinhalten. Ich nahm es entgegen und er gratulierte mir, so wie allen anderen vor mir auch. Es folgte ein Anstandsklatschen von den anderen Klassen, meine rührte keinen Finger.

Wie ein Ertrinkender, der sich an seinem Rettungsboot festklammert, hielt ich mein Zeugnis für den Rest des Abends fest. Ich durchlitt mit ihm gemeinsam den kurzen Umtrunk in unserer ehemaligen Klasse mit den Lehrern und den Eltern. Alle lachten und unterhielten sich, außer ich. Ich stand außerhalb des großen Kreises, den sie gebildet hatten. Ich klammerte mich immer noch an meinem Zeugnis fest.

Eines der Mädchen hatte einen Vlog von unserer letzten Klassenfahrt zusammengeschnitten, den sie der Klasse noch zeigen wollte. Ich kam auf keinem Video vor, obwohl ich bei jeder Aktivität dabei gewesen war. Danach schenkte unser Klassenlehrer eine weitere Runde Sekt aus und hielt eine Rede darüber, wie sehr er uns alle vermissen würde.

Wie konnte ein einzelner Tag so viel mehr wehtun, wie diese ganze Zeit, die ich mit dieser Klasse verbracht hatte? Obwohl ich seit fünf Jahren fast jeden Tag genau in diesem Raum gesessen hatte, war keiner von ihnen so unerträglich endlos wie diese zwei Stunden. Das Gelächter oder die Blicke, die mich aufforderten, zu gehen, waren heute nochmal intensiver. So als würden sie mir sagen wollen: "Warum bist du noch hier? Du gehörst hier nicht hin".

Irgendwann verließ ich den Raum einfach und machte mich auf den Heimweg. Ich konnte im Gang noch den Jubelschrei eines Jungen hören, der zu seinen Freunden sagte: "Ich dachte schon, die geht nie."

Sobald ich außer Hörweite war, begann ich zu rennen. Ich rannte, so schnell ich konnte aus dem Gebäude. Ich schenkte der Schule keinen letzten Blick, sondern rannte weiter, auf die Straße, einfach weg. Meine Füße führten mich weit, weit weg von diesen furchtbaren Menschen. Ich konnte ihr Gelächter immernoch in meinen Ohren hören. Mir liefen Tränen die Wangen hinunter. Ich hatte das Bedürfnis, zu schreien. Doch, genau wie in den letzten Jahren, blieb ich still.

Während ich rannte, drückte ich mir mein Zeugnis an die Brust. Es schien das einzige zu sein, an das ich mich noch festhalten konnte. Meine letzte Hoffnung, wenn alle anderen im Keim erstickt worden waren.

Meine Lunge brannte. Ich bekam kaum noch Luft. Als würde ich gerade ertrinken. Mein Atem wurde schneller. Mein Herz raste. Ich spührte, wie meine Hände anfingen zu zittern. Und dennoch lief ich weiter. Immer, und immer weiter.

Ich hatte mittlerweile den Wald erreicht, der an mein Heimatdorf grenzte. Ein Gefühl der Sicherheit und der Erleichterung überschweppte mich wie eine Welle. Mit letzter Kraft rannte ich ich zu meinem Einzigen Zufluchtsort in den letzten Jahren - eine kleine Waldlichtung, die ich als Kind entdeckt hatte. In meinen Fantasien spielten hier die tollsten Filme, die so weit weg von meiner Realität waren, dass ich das Gefühl der ständigen Angst und Leere für einen Moment von meinen Schultern werfen konnte.

Als ich den Baum, in dessen Stamm ich ein kleines "A" geritzt hatte, erreichte, fühlte ich mich so, als wäre ich gerade nach Hause gekommen. Endlich konnte ich meine Schritte verlangsamen. Ich erreichte die Mitte der Lichtung und ließ mich auf die Knie fallen. Und dann schrie ich, bis ich heiser wurde, mit dem Zeugnis an meine Brust gedrückt. Wie ein Rettungsboot.

Because we are Dreamers (#Chalicia)Where stories live. Discover now