Es war ein Tag wie immer hier. Ich saß auf den fluffigen, weißgrauen Wolken und beobachtete den Menschen welchen ich beschützte. Tagein und Tagaus hatte ich nichts anderes zu tun als diesen Menschen zu beschützen und mich deswegen oft in Lebensgefahr zu begeben, könnte ich denn sterben. Ich lag da also, schaute auf die Erde hinab und flatterte sanft mit meinen schillernden, silbernen Flügeln auf der Suche nach jeglicher Gefahr die meinen Schützling treffen könnte. Kichernd und glucksend beobachtete ich jedes Fettnäpfchen in das er trat, sei es der Zusammenprall mit seiner Lehrerin oder das Ausrutschen auf einem nassen Fast-Food-Restaurant-Boden. Gegen Abend ließ er sich dann wie immer in sein Bett fallen, wo meine Arbeitszeit aufhörte. Ich streckte mich ausgiebig und versuchte gleichzeitig auf der inzwischen kleineren Wolke die Balance zu halten. Mit einem letzten Blick auf meinen Schützling verschwand ich mit schwachen Flügelschlägen in Richtung Süden.
Inzwischen konnte man die Sterne sehen und die vielen Engel, die gerade ihre Ausbildung zu sogenannten Wächterengeln oder wie im Volksmund Schutzengeln machten, flogen alle in Richtung einer großen Halle. Die Halle war ein farbenfrohes Gebäude und beherbergte sämtliche Wächterengel in Ausbildung. Ich bin erst im ersten Ausbildungsmonat, weswegen ich immer noch sehr zögerlich gegenüber den anderen bin. Ich weiß nicht mal wie ich mit den älteren umgehen sollte. Also machte ich einen großen Bogen um die älteren Auszubildenden und versteckte mich hinter allem was ansatzweise Schutz bot. Sie schauten zum Glück nie zu mir herüber, ich könnte den Blicken eh nicht standhalten, soviel Angst hatte ich vor ihnen. Ich flog durch ein offenes Fenster in mein Zimmer, welches ich mir mit meinem besten Freund teilte. Nur er verstand meine panischen Ängste vor anderen Engeln, weswegen er immer ein Fenster aufließ, damit ich ohne Umwege ins Zimmer flattern konnte. Warum ich diese Angst habe, weiß ich wiederrum selbst nicht.
Ich legte meine Flügel an, stellte mich vor den Spiegel und schaute mich musternd an. Die rubinroten Haare lagen in langen Wellen auf meinen Schultern und zogen sich bis zu meiner Hüfte, wo sie sich ein letztes Mal kurz wellten. Ich war nicht sehr groß, eher ein Knirps. Meine grünen Augen passten nicht zu meinem gesamten Erscheinungsbild. Sie wirkten rebellisch und mein restliches Erscheinungsbild ließ mich eher wie ein braves Mauerblümchen aussehen. Und ein Muttermal in Form eines umgedrehten Pentagramms, also ein Satansstern, zierte den Platz welcher knapp unter meinem linken Auge lag. Auch das ließ mich wie eine rebellische Außenseiterin dastehen. Nicht das ich keine Aussenseiterin wäre, aber rebellisch war ich noch nie. Zu viel Angst vor den Konsequenzen des Rebellierens. Also war ich immer das brave Engelchen, so wie meine Eltern mich erzogen hatten. Ich verkroch mich in die hinterste Ecke eines lila Himmelbettes, welches mit goldenen Glitzerfäden im Vorhang verziert war und schnappte mir eines der Bücher die in der Nische zwischen Wand und Bett lagen. Mit einem kurzen Pusten verschwand der leichte Staub auf dem alten Buch und ich konnte es behutsam aufschlagen. Komischerweise fehlte der Einmerker, den ich in die Seite geklemmt hatte bei der ich gerade war, was mich aber nicht weiter störte, ich fing das Buch einfach von vorne an. Die erste Seite des Buches zierte ein einzelner Schriftzug: ‚Die Lehre der Welten‘ in einem wunderschönen Schreibstil welchen ich erst mehrere Male überflog bevor ich mit meinen dünnen Fingern auf die nächste Seite blätterte und anfing mit großem Interesse in dem Buch zu schmökern. Dabei überhörte ich sogar ein energisches Klopfen an der Zimmertür.
Erst ein lauter Knall weckte mich aus der Trance in die das Buch mich gesogen hatte. Die Tür flog halb aus ihren Angeln und mein bester Freund stand im Rahmen. Mit einem säuerlichen Blick schaute er mich an, kam an mein Bett und schnipste mir mit ziemlicher Wucht gegen meine kleine Stirn, was mich zusammenzucken ließ. „Das hätte es jetzt nicht gebraucht! Ich hab gelesen und das Klopfen nicht mitbekommen, das ist kein Grund um grob zu werden.“ Mit leicht glasigen Augen schaute ich ihn an, der Schnipser hatte mehr wehgetan als er es wahrscheinlich gewollt hatte und ich spürte bereits, dass da eine kleine Beule anschwoll. Ich war sehr empfindlich was Schmerzen anbelangte weswegen ich mit den Tränen kämpfen musste, aber ich wollte mir nicht anmerken lassen das es wehtat.
Bloß nicht besorgniserregend gucken sonst merkt er das du Schmerzen hast, redete ich mir ein und klappte das Buch wieder auf um weiter zu lesen: ‚Anfangs gab es in den Himmelsreichen zwei Engelsstämme, welche sich gegenseitig bekriegten und auf ihr reines Blut hassten. Als einer der Erzengel anfing gegen seinen Stamm zu rebellieren wurden er und der Stamm welcher von seinem bekriegt wurde in Richtung der Erde verbannt und der abtrünnige Erzengel schuf die Hölle. In dieser sollten alle Engel welche jemals Verrat an ihren Herrscher begingen im ewigen Feuer des Erzengels Luzifer den ewigen Brandschmerz erleiden. Doch konnten sich einige der Verräter aus den Fängen der unendlichen Leiden retten und fanden ihren Weg zurück in die Himmelsreiche. Dort paarten sie sich mit Engeln welche noch nie den Geschmack der Höllenfeuer geschmeckt hatten und verschwanden dann spurlos. Wer ihre Nachkommen sind und ob sie einen verraten könnten, ist bis zu ihrem 16. Lebensjahr nicht bemerkbar. Erst an ihrem 16. Geburtstag werden spezifische Merkmale bemerkbar. Erkennbar werden die Mischlingsengel durch Verfärbung der Flügel, Verfärbung des Augenäusseres (meist schwarz und in seltenen Fällen rot), spitzeren Eckzähnen und eingeschränkter Sehkraft. Diese Jungengel werden von den anderen Jungengeln abgeschottet und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die Erde zu ihrem Schützling oder in besonderen Fällen sofort in die Tiefen von Luzifers Hölle verbannt. Bis zum heutigen Tage wurden 172 Mischlingsengel aufgespürt und aus den Himmelsreichen verbannt‘. Mir schauderte beim lesen dieser Zeilen.
Wie grausam man die Mischlinge behandelt ist doch ungerecht ihnen gegenüber. Können sie denn etwas dafür, die Kinder von einem gefallenen Engel zu sein?
Ich streckte mich kurz und sah dann zu meinem besten Freund, welcher mit leisem Schnarchen vor meinen Füßen zusammengerollt eingeschlafen war. Seinen Kopf tätschelnd beobachtete ich wie sein Körper sich seiner Atmung in der Bewegung anpasste. Seine blonden kurzen Haare machten ihn jünger als er war. Langsam merkte ich das ich immer müder wurde und legte mich hin, die Flügel um meinen Körper geschlungen. Ich summte noch ein wenig vor mich her und fiel dann in einen tiefen Schlaf der bis zum nächsten Morgen anhalten sollte.
Eine Straße. Ich rannte immer weiter. Meine Flügel: unnütz. Mir liefen die Tränen über die Wangen. Ich rannte vor etwas weg. Es kam immer näher egal wie sehr ich rannte. Ich drehte mich um. Ich bin vor mir selbst weggerannt. Doch mein Ich, das mir gegenüberstand hatte ein schwarzes Augenäußeres und trug eine Brille. Die Flügel waren blutrot und das andere Ich sah hungrig aus. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und es packte mich. Nein, das war nicht ich. Das will ich nicht sein. In diesem Augenblick drang es in meinem Körper ein.
Mit lautem Keuchen und Tränen in den Augen wachte ich auf. Wieso träumte ich so etwas Schreckliches? Hatte es Bedeutung? Ich spürte Hände an meinen Schultern und schaute in das Gesicht meines Freundes. „Melody, es war nur ein Traum“, flüsterte er während seine Finger mir, Gentleman wie er war, die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ich schlang die Arme um ihn und fragte mich wie ich jemals ohne ihn könnte. Ohne meinen Besten Freund.