Die nächste Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, da öffnete ich meine Augen. Mein Kopf schmerzte pulsierend, durch den Schlafmangel den ich durch den Albtraum erlitten hatte. Ich kuschelte mich auf die Brust meines besten Freundes und konzentrierte mich auf seinen gleichmäßigen, beruhigenden Herzschlag. Er atmete sehr flach, wie immer wenn er schläft. Jesse ist mehr als einen Kopf größer als ich weswegen ich mich leicht hinter ihm verstecken kann. Wenn er wach ist strahlen seine Augen eisblau und sein Gesicht wirkt weiblich, was sein muskulöser Körper und der blonde, rebellenhafte Irokesenschnitt seiner Haare aber an Männlichkeit wieder wettmachen. Auch waren seine Flügel in ein sanftes Blau gehüllt, so wie meine in grau. Ich kannte ihn schon seit unserem ersten Lebensjahr, denn unsere Eltern waren befreundet. Doch diese verschwanden urplötzlich und ließen uns allein und verwaist zurück. Während das Jesse nichts ausmachte, er hatte nie ein wirkliches Verhältnis zu seinen Eltern sagte er mir kurz darauf, verlor ich den Halt, da meine Eltern alles für mich waren. Aber heute kann ich mich nicht mehr wirklich an sie erinnern. Ich weiß nur noch das ich die knallroten Haare von meinem Vater und die grünen Augen von meiner Mutter hatte, und das auch nur, weil mir das von meiner Großmutter oft gesagt wurde.
Jesse schlug die Augen auf und guckte zum Fenster. „Heute Nacht hatten wir es nicht sonderlich mit Tiefschlaf, was?“ Er streckte sich, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass mein Kopf noch auf seinem Brustkorb lag. Ich erschrak, als ich von ihm herunterkullerte und wedelte mit den Armen, während ich vom Bett fiel. Schallendes Gelächter ging durch den Raum, als Jesse mich am Boden liegen sah, mit dem Gesicht zur Decke. Auch ich lachte, denn sowas passierte ständig, und rappelte mich wieder auf. Wer hätte gedacht, dass der Albtraum der letzten Nacht so schnell wieder in Vergessenheit geriet.
Wir machten uns zum Frühstück auf, da ich extreme Gelüste auf frischen Bacon und Rühreier hatte. Auf dem Weg zum Essenssaal fiel mir auf das wieder ein Jugendlicher aus unserem Jahrgang fehlte. Was wohl mit ihm geschehen sein könnte, dachte ich mir, doch im selben Moment fing mein Bauch wieder das lautstarke Grummeln an. Ich schämte mich wieder in Grund und Boden und versteckte mich hinter Jesse bis wir im Essenssaal waren. Doch dort fing das Drama erst richtig an. Ich rutschte aus und fiel über einen Tisch der mir im Weg stand. Mit schmerzenden Knien und knackenden Rücken stand ich wieder auf und hoffte dass mich keiner gesehen hat. Doch es war zu spät, der gesamte Saal sah mich an und lachte. Aus der hintersten Reihe hörte ich sogar wie man mich einen ‚dummen Tölpel‘ nannte. Sofort war mein Hunger verflogen und ich rannte weinend aus dem Saal zurück in Jesse‘s und mein Zimmer.
Unter Decken und Kissen verkrochen weinte ich hemmungslos, ich fühlte mich miserabel und allein. Jesse war noch im Essenssaal und ausser ihm hatte ich niemanden mehr. So kam es das ich mich in meinen Flügeln einrollte und stumm weinte bis er zur Tür hereinkam. Bis er sich zu mir aufs Bett gesetzt hatte und mir zärtlich über die Flügel gestrichen hat. Bis er zu mir unter den Haufen Decken und Kissen kam und mich an sich zog. Erst dann hörten die Tränen auf. Und wieder wurde mir klar wie aufgeschmissen ich ohne ihn wäre. Denn ohne ihn wäre ich verloren. Ich kuschelte mich an Jesse und genießte die Wärme die ihn umgab bis ich mich vollends beruhigt hatte und mich wieder an den Tag wagen wollte.
Und erst da roch ich den gebratenen Bacon den Jesse mir aus dem Essenssaal geschmuggelt hatte, damit ich nicht hungern musste. Meine Augen glitzerten bei dem ersten Bissen in die Scheibe und ich grinste. Es gab nicht viele Dinge die mich so glücklich machen konnten. Jesse sah mir zu und nahm sich auch eine der kleineren Scheiben und hielt sie mir vor die Lippen. Ich schnappte danach
und wir endeten wieder in schallenden Gelächter auf dem Bett.
Im Raum wurde es wieder ruhiger. Jesse schaute mich an, während ich zur Decke schaute und dachte über alles was bis jetzt passiert war nach. Dann spürte ich seinen Arm auf meinem Bauch und schaute ihn an. "Wann hab ich dir das letzte Mal gesagt das du das hübscheste Mädchen bist das ich kenne?" Ich fing das Kichern an. "Das ist schon etwas länger her. Wieso?" Nun wurde es wieder still. Er schaute mir in die Augen und grinste. Ich konnte nicht anders als verlegen lächeln. Und dann küsste er mich, mein bester Freund küsste mich. Ich wusste nicht mehr was ich tun sollte und tat das erste was mir einfiel: Ich drückte mich an ihn und wollte nicht mehr weg hier. Er legte seine Hand an meinen Hals und küsste mich intensiver, als würde alles von diesem einen Kuss abhängen. Und ich lies es geschehen, denn zum ersten Mal fühlte ich mich nicht unsicher bei dem was ich tat.