Theorie

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Ich notierte "Mmh" und "Wundervoll". "Mjam" hatte ich schon. Vorsichtig biss Papa eine Hälfte ab. "Tröffel ond Moak dö Champnnn!", nuschelte er mit der Pralinenhalbkugel im Mund. Er setzte sich in den Sessel und knisterte mit den Fingern im durchsichtigen Plastik herum. "Ich liebe es", sagte er, schloss die Augen und legte die Füße auf den flachen Buchentisch. Ich lag bäuchlings auf der Couch und unterstrich "Schmatzen".
"Was machst du da eigentlich schon wieder?", fragte Papa.
"Nichts"
"Willst du mal eine probieren?"
"Nein, danke. Ich muss mich konzentrieren", sagte ich und schaute noch einmal über die Einträge.
"Tja, Grübeln und Genuss passen wohl auch nicht so gut zusammen", meinte Papa und fischte die nächste Kugel aus der Tüte.
"10. Januar" stand unterstrichen in der Ecke. "Mjam", "Wundervoll", "Mmh". Unten hatte ich ein paar Anmerkungen beigefügt. "Zwei Hälften; cremegefüllt; leicht krüselige Oberfläche; ein bisschen wie Schokolade aber mit einem komischen Geschmack dabei". Ich habe es Papa nicht gesagt, aber ich hatte schon mal eine Praline probiert. Heimlich, wegen des Alkohols. Ich habe sie in zwei Hälften gebrochen und zunächst nur die Creme probiert. Dann spülte ich mir den Mund am Waschbecken aus. Damit Mama die Reste der Praline nicht im Mülleimer fand, schluckte ich die andere Hälfte ganz. Papa liebte Trüffelpralinen, ich nicht. Ich mochte Kinderschokolade und Erdnussflips. Ich mochte Brausepulver. Aber verrückt war ich danach nicht. Erdnussbutter und Erdbeermarmelade auf Weißbrot, das mochte ich sehr. Aber ich hätte nie behauptet, dass ich es lieben würde.

In Deutsch habe ich einmal auf meine Aufzeichnungen geguckt. Vielleicht hatte Papa ja stilistische Mittel benutzt, um die Pralinen zu beschreiben.
"Was hast du denn da?", flüsterte Mark, der neben mir saß.
"Nichts", flüsterte ich zurück.
"Mmh, aah, wundervoooll", machte Mark und spitzte die Lippen.
Eigentlich verstand ich mich gut mit Mark, auch wenn er ganz anders war, als ich. Mark hatte schonmal ein älteres Mädchen geküsst. Und auch die Jennifer aus unserer Klasse. Statt Textstellen auf den ausgeteilten Zetteln zu unterstreichen, schrieben wir uns oft Nachrichten. Über Mädchen meistens. Ich schrieb aber nicht, dass ich noch nie eine Freundin hatte. Auch nicht, dass ich noch nie ein Mädchen geküsst hatte. Aber wenn ihn ein Mädchen ungerecht behandelte oder total verrückt war, dann sagte ich ihm das. "Die ist doch total verrückt", schrieb ich. "Stimmt eigentlich", schrieb Mark. Aus irgendeinem Grund schien ihm meine Meinung in diesen Dingen wichtig.

Ich ging mit Mark eine Runde um die Schule.
"Geht ihr jetzt miteinander?"
"Jennifer und ich? Nee, Quatsch!"
"Aber geknutscht habt ihr doch?"
"Klar, nur habe ich keinen Bock mit ihr zu gehen."
"Verstehe", sagte ich. Aber ich verstand es nicht. Warum hat er denn mit ihr geknutscht, wenn er nicht ihr mit gehen möchte?
"Ich finde Maike besser", sagte Mark.
"Ja, voll", stimmte ich pflichtbewusst zu.

Das war meine erste Theorie: Liebe passiert einfach. Sie kommt einfach so, wenn man nicht damit rechnet. So wie ein Pfeil, den Amor aus dem Gebüsch abschießt. Aber bist jetzt hatte mich die Liebe wohl nicht erwischt. Ob Amor vielleicht auf einem Auge blind ist? Naja, ist natürlich Quatsch. Aber vielleicht gibt es biologische Gründe, aus denen man sich nicht verlieben kann. Vielleicht war ich ja einfach eine Ausnahme. So war ich jedenfalls auf die Idee gekommen, Forschungen anzustellen. Ich habe also geschaut, was andere Menschen machen und sagen. Aber nur im echten Leben. Denn Theorie Nummer 1 kam aus Büchern und Filmen. Und die war ganz offensichtlich falsch. Ich hatte ja schon lang genug gewartet. Jedenfalls länger als Mark und die anderen aus der Schule. Klar, es gab Mädchen, die ich mochte. Anna Koczy zum Beispiel hatte schöne blaue Augen. Aber ich war weder in sie "verschossen", noch "verknallt". Ich fand sie einfach nur richtig gut. Eigentlich wollte ich aber in sie "verknallt" sein. Manchmal habe ich auch ganz kurz gedacht, dass ich das wäre. Aber irgendwie war dieses Gefühl dann auch sofort wieder weg.

"Ich bin so in Sandra verknallt, ich glaube, dass ich sie liebe.", schrieb Mark.
Ich hätte gerne gefragt, wo der Unterschied lag. Aber als Berater konnte ich ja nicht zugeben, dass ich keine Ahnung hatte. Darum nahm ich einfach an, dass Liebe eine gesteigerte Form von verknallt sein ist.
"Echt? Wow", ich machte einen Absatz und überlegte, was ich noch schreiben sollte.
"Und wie fühlst du dich jetzt?", schrieb ich.
"Keine Ahnung, irgendwie komisch... und gut."
Irgendwie komisch und gut. Immerhin, ein neuer Hinweis. Ich hatte Mark und Sandra nämlich letztens in der Pause gesehen. Hinten an den Tischtennisplatten haben sie geknutscht. Und jetzt das. Mark glaubt, dass er Sandra liebt. Meine zweite Theorie war also folgende: Wenn man mit einem Mädchen geknutscht hat, dann weiß man, ob man in sie verknallt ist. Und vielleicht wird man sogar so verknallt, dass man sie liebt. So ließ sich das mit Mark, Jennifer und Sandra erklären. Beobachtung halfen mir also nicht mehr weiter. Es musste ein Feldversuch her. Ein Kuss-Experiment.

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