Praxis

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Nach einiger Überlegung hielt ich fest, dass ich von allen Mädchen am ehesten Anna küssen würde. Auch wenn - oder vielleicht sogar gerade weil - ich schon feststellen musste, dass ich nicht in sie verknallt war. Am 12. April ergab sich in der großen Pause eine gute Gelegenheit. Es klingelte und alle gingen wieder zu den Klassen. Aber Anna blieb noch etwas länger auf der Treppe am Seiteneingang stehen. Ich fragte sie, ob ich sie für ein Experiment küssen dürfte, als gerade keiner in der Nähe war. Sie guckte mich nur ganz kurz an und nickte dann. Also habe ich mich näher an sie heran gestellt. Wir haben beide unsere Augen zu gemacht. Ich drückte meine geschlossenen Lippen gegen ihre. Und als ich den Kopf wieder zurück bewegte, imitierte ich das Geräusch einer Shampooflasche, die etwas Luft zog. So, wie ich es schonmal bei anderen beobachtet hatte. Das war es dann auch. Irgendwie hatte ich etwas anderes erwartet. Herzen in den Augen oder so, wie bei Disney eben. Stattdessen wurde mir sehr warm und ich musste auf den Boden gucken. Ich habe mich irgendwie unwohl gefühlt. Anna wohl auch, weil sie sofort ins Klassenzimmer lief.

Anna saß in Mathe eine Reihe vor mir. Ich starrte auf ihren roten Wollpulli und versuchte zu spüren, ob ich vielleicht doch verknallt war. Aber ich wusste es nicht. Ich mochte nur die Farbe ihrer Augen und an manchen Tagen den Geruch, wenn sie nah bei mir stand. Das war alles.
"Ich habe gestern Anna geküsst", schrieb ich auf den Zettel.
"Echt? Nicht schlecht", schrieb Mark zurück.
"Ja. Aber ich glaube, ich bin nicht in sie verknallt."
"Muss ja auch nicht. Sandra und ich gehen jetzt miteinander", schrieb Mark auf den Zettel. Das war mir keine große Hilfe. Alles in allem war ich nicht schlauer als zuvor.

Was für Theorien könnte man sonst noch aufstellen? Man verliebt sich nur in hübsche Mädchen... Man verliebt sich nur in schlaue Mädchen... Man verliebt sich nicht, sondern jemand anderes macht einen verliebt... Oder wie wäre es hiermit: Man verliebt sich in jemanden, wenn man zusammen etwas Dummes tut... Ach, das war doch auch wieder so eine Sache aus den Filmen. Ehrlich gesagt erschien mir keine dieser Theorien besonders gut. Ich brauchte eine neue Theorie. Nein, nicht nur eine neue Theorie. Es musste ein neuer Ansatz her. Vielleicht war ja auch Mark einfach nicht der Richtige, um Liebe und sich verknallen zu studieren. Womöglich waren Männer sowieso total ungeeignet. Ich entschloss, dass ich mit Anna darüber sprechen müsste. Vielleicht hatte sie eine gute Hypothese. Zumindest schien sie der wissenschaftlichen Lösungssuche für das Problem nicht abgeneigt zu sein, sonst hätte sie ja dem Kuss-Experiment nicht zugestimmt.

In der Theorie war es ganz einfach. Ich gehe nach der Schule auf Anna zu. Ich schaue ihr in die Augen, aber nicht komisch oder so. Ich frage: "Möchtest du dich mit mir treffen? Ich würde dich gerne ins Kino einladen." Dann gibt es unzählige Möglichkeiten, wie es weiter geht. Aber im Grunde läuft es auf eine von zwei Varianten hinaus. Anna sagt ja: Ich lächle und schlage Donnerstagabend vor. Anna sagt nein: Ich lächle nicht und gehe Donnerstagabend allein ins Kino. Aber wenn sie ja sagt, dann würde ich mit ihr darüber sprechen, ob sie vielleicht etwas wichtiges über das Verliebtsein weiß.
Naja, in der Praxis war es nicht so simpel. Irgendwie konnte ich nicht einfach so auf Anna zugehen. Also musste ich warten, bis wir nach der Schule unsere Fahrräder aufschlossen. Ich habe sie auch nur ganz kurz angeschaut. Dann musste ich weg gucken. Ich habe leise gefragt "Hast du vielleicht Lust auf Kino?". Danach habe ich mir gewünscht, ich hätte erst gar nichts gesagt. Ich fummelte am Schloss meines Fahrrades herum. Sie hat bestimmt gedacht, dass ich zu trottelig bin, mein eigenes Fahrrad aufzuschließen. "Klar", sagte Anna. Das fühlte sich richtig gut an. Wahrscheinlich, weil ich auf der richtigen Spur war.

Am 23. Mai trafen wir uns. Aber nicht am Kino, sondern für einen Film bei Anna zuhause. Das war ihr Vorschlag. Vielleicht weil sie wusste, dass man sich im Kino nicht gut unterhalten kann. Sie hatte einen eigenen Fernseher im Zimmer und ihre Mama hatte Popcorn gemacht. Wir saßen auf der Couch und guckten einen Film. Ich entschied, dass ich das Thema nach dem Film ansprechen würde. So mittendrin war doof. Dann könnte man vielleicht etwas verpassen.

"Ich möchte etwas ausprobieren", sagte Anna plötzlich.
"Ein Experiment?", fragte ich. Sie nickte.
Sie drehte sich zu mir, legte ihren Kopf auf meine Brust und horchte. Irgendwie war ich etwas nervös und mein Herz schlug ein wenig schneller als sonst. Das war mir unangehnehm. Aber Experimente fand ich gut, also beschwerte ich mich nicht. Anna hob den Kopf, kam mit ihren Lippen ganz nah an meine. Ich schloss die Augen. Dann drehte sie sich weg und horchte erneut. Mein Herz schlug schneller. Anna musste grinsen. Das machte mich noch nervöser. Als nächstes kam sie mir wieder ganz nah. Und dann küsste sie mich. Es pochte in mir wie verrückt. Der Film lief einfach weiter. Wir küssten uns.

Ich fuhr mit dem Fahrrad durch den Regen nach Hause. Es war mitten in der Nacht und ich strampelte so fest ich konnte. Zuhause zog ich mich schnell um und legte mich ins Bett. Mein Herz klopfte und klopfte. Vielleicht vom Fahrradfahren, dachte ich. Aber ich konnte nicht aufhören, an das Küssen zu denken. An Anna. Und an das perfekte Experiment.

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