Kapitel 1
Am Morgen schreckte Joris hoch, sah, dass es erst sieben Uhr war und seufzte. Er hatte kaum geschlafen, was kein Wunder war unter dem Umstand, dass ein fremdes Mädchen mit Baby auf seiner Couch lag.
Er schälte sich aus der Decke, um direkt eine dicke Jogginghose und einen Kapuzenpulli anzuziehen, nachdem er das Fenster geschlossen und die Heizung angestellt hatte. Die kalte Luft von draußen ließ seinen Atem in weißen Wölkchen nach oben steigen.Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie schlief, hastete er zur schräg gegenüber liegenden Wohnungstür.
Auf sein Klingeln hin reagierte erstmal nur Knut, Marks Hund. Wahrscheinlich schmiss er seinen Besitzer gerade aus dem Bett, nach einiger Zeit hörte Joris schlurfende Schritte hinter der Tür, bis sie sich schließlich ein Stück öffnete.
Sein verschlafener, langjähriger Nachbar und inzwischen guter Freund, blickte ihn aus verquollenen Augen an und zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Guten Morgen. Heute Nacht hab' ich schon über dich geschimpft, weil ich dachte, du hast irgendeinen Mist im Treppenhaus abgestellt und ich bin drüber gestolpert. Das war kein Mist! Mark, da saß ein Mädchen im Treppenhaus, völlig verwahrlost. Sie hatte ein Baby im Arm und war total unterkühlt. Ich glaube nicht, dass sie viel älter als achtzehn ist. Und naja...irgendwie liegen sie jetzt auf meiner Couch und schlafen. Ich habe kein Frühstück mehr, weil ich ihr mein letztes Essen gegeben hab' und ich habe keine Ahnung wie ich mit ihr umgehen soll, wenn sie aufwacht, sie hat mich nicht angesehen und nicht mit mir gesprochen.
Ich muss eingeschlafen sein, bevor sie sich entschieden hat rein zu kommen.
Was soll ich denn jetzt tun? Ich kann sie nicht alleine in meiner Wohnung lassen, wie soll ich nachher arbeiten gehen? Vielleicht verschwindet sie auch wieder, sobald sie wach ist, aber sie sieht nicht aus als hätte sie einen Ort, an den sie gehen könnte."Mark stoppte mit erhobener Hand seinen unerschöpflichen Redefluss, öffnete die Tür ein Stück weiter und deutete aufs Sofa. Joris trat ein und schob Marks Bettzeug in eine Ecke der Schlafcouch; während er sich setzte, kam der kleine Münsterländer angelaufen und ließ sich kraulen.
Mark wühlte in der in den Raum integrierten Küchenzeile seiner kleinen 1-Zimmer-Wohnung herum und lief schließlich mit Toastbrot und einem Glas Honig in den Händen voraus in Richtung Wohnungstür.Noch während sie die gegenüber liegende Wohnung betraten, die wie Marks keinen Flur besaß, vernahmen sie das gleiche Wimmern, das Joris bereits nachts empfangen hatte.
Es ließ den Oberkörper des Mädchens binnen Millisekunden in die Höhe schießen, gehetzte Blicke flogen durch den kleinen Raum, die verängstigt an den beiden Männern hängen blieben.
„Keine Angst", sagte Joris, „wir tun dir nichts. Das ist mein Nachbar, Mark. Eigentlich müsstet ihr euch blendend verstehen, er ist stumm. Ich schätze, du kannst sprechen und willst nur nicht?"
Wie schon zuvor reagierte sie nicht auf seine Worte und wandte sich ihrem Baby zu, das wieder Hunger zu haben schien. Joris kannte sich mit Babys nicht aus und hatte keine Ahnung, wie alt es war, aber es sah ziemlich winzig aus.Unter ihren misstrauischen Blicken setzte Joris Tee auf, schmiss zwei Scheiben Brot in den Toaster und stellte drei seiner vier Teller auf den Couchtisch, sie waren alle unterschiedlich.
Das Frühstück verlief schweigend. Mark konnte augrund einer angeborenen Fehlbildung der Stimmbänder nicht, das Mädchen traute sich nicht und Joris blieben die Worte im Hals stecken, noch während er sie im Kopf ausformulierte.
„Ich geh' schnell rüber zu Maggie, vielleicht kann die helfen. Hab' du in der Zeit ein Auge auf die beiden", raunte Joris Mark zu, als er satt war.
Ein bisschen, um der Situation zu entfliehen und ein bisschen mit der Hoffnung, das fremde Mädchen würde sich eher trauen, mit einer Frau zu sprechen, wenn sie es bei ihm nicht wollte, machte er sich auf den Weg zu seiner langjährigen Freundin Magdalena.
Joris trat auf den Gehweg und hätte fast ein Kind aus dem Nachbarhaus umgerannt.
In knallroten Wildlederstiefeln, die ihn einen gesamten Monat mit Essen versorgen könnten, verschwand das Mädchen in Richtung Grundschule.
Sie befanden sich in einer Wohngegend der gehobenen Mittelklasse und seine niedrige Miete hatte er nur der Tatsache zu verdanken, dass der Vermieter keine Lust hatte, Geld in Renovierungsarbeiten des betagten Hauses zu stecken. Das Dachgeschoss trug mit seiner nicht vorhandenen Isolierung nicht unbedingt zur Steigerung der Wohnqualität bei.
Trotz allem hatte er seine Wohnung nur dank Maggies Vitamin B.
Das Viertel war bevölkert von hübschen Vorzeigefamilien mit zwei Kindern und zwei Autos und Hipster-Studenten mit Riesenbrillen, sauteuren Öko-Rucksäcken und Dutt auf dem Kopf; einen großen Unterschied zwischen Mann und Frau gab es da nicht, die meisten trugen ähnliche Taschen und Frisuren spazieren – nicht selten abgerundet mit Birkenstocksandalen in Erdtönen – während sie locker fünfhundert bis sechshundert Euro für ein WG-Zimmer blechen mussten.
Auf seinem Weg zu Maggie musste Joris über vier Querstraßen und vorbei an einer Metzgerei, in der sich die Leute im Glauben, etwas Gutes für die Umwelt zu tun, ihr Fleisch von vermeintlich glücklichen Tieren in tonnenweise Plastik verpacken ließen.Bei seiner Freundin angekommen, schlug ihm ein vertrauter Geruch nach Rosskastanien entgegen, der sich mit dem Duft ihres selbst gemachten Apfelshampoos mischte, als sie ihn stürmisch in die Arme schloss.
„Joris, was machst du hier?", rief sie fröhlich, „Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst? Dann hätte ich Kaffee gemacht."
Er atmete tief ein und wand sich nach einem Kuss auf die Stirn aus ihrer Umarmung, um sich nach wenigen Schritten an den großen, naturbelassenen Küchentisch fallen zu lassen.
„Ich habe leider keine Zeit für Kaffee."
Umgehend schob Maggie ihm ein Brettchen und ein Messer zu und er begann, mit ihr gemeinsam Kastanien zu vierteln und anschließend zu schälen.
Scharfe Kanten harter, dunkelbrauner Schalen machten nach kurzer Zeit seine Finger rau, während er ein weiteres Mal erzählte, was passiert war.
Auf Maggies altem Gasherd stand ein kleiner Topf, der den Geruch der herbstlichen Früchte in der Küche verbreitete.
Ein Timer piepste, Maggie drehte das Gas aus, rührte, nachdem der Topf etwas abgekühlt war, frisch gepressten Apfelsaft darunter und stellte ihn in den Kühlschrank.
„Ich füll' das nachher um, jetzt gehen wir erstmal zu dir und gucken, ob das Mädchen doch sprechen kann. Vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht.
Lass' das Zeug einfach liegen, das mache ich später sauber."„Ich habe einen neuen Großauftrag", begann Maggie strahlend, als sie sich gerade durch den schmalen Durchgang quetschten, den des Metzgers beinahe lebensgroße Plastik-Werbekuh auf dem Gehweg ließ.
Die rothaarige, 1,81m große Frau war ein Paradebeispiel für Wohlstandverwahrlosung.
Sie waren nie reich gewesen, dennoch war es Maggies Eltern immer wichtig, in Eigenheim und teure Urlaube zu investieren, während überteuerte Kleidung zumindest nach außen den Schein für die High Society wahren sollte, der sie gerne angehört hätten – das hatte zur Folge, dass ihre einzige Tochter selbst am Wochenende bis abends alleine war, um ihr einen Lebensstandard bieten zu können, den sie gar nicht haben wollte.
Schon als junger Teenager wandte sie ihrem Spießerleben den Rücken, brach aus und schockte ihre Eltern, als sie mit gerade mal vierzehn Jahren mit Dreadlocks bis zum Po nach Hause kam.
Die hübschen, von Mama ausgesuchten, Kleidchen wanderten ins Sozialkaufhaus und wurden durch simple Stoffhosen und Bandshirts ersetzt.
Einzig Joris' Mutter hatte Maggie es zu verdanken, dass sie nicht komplett abgestürzt war; phasenweise stürzte sie sich in den Alkohol und gab sich mit falschen Leuten ab, bis sie mithilfe ihres besten Freundes einen anderen Weg fand, depressive Phasen zu überwinden: Malen.
Ganze Tage verbrachte sie unter den Brücken eines kleinen Flusses in der Umgebung – bewaffnet mit Farbeimer und Spraydosen.
Heute hatte sie es geschafft, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen.
„Das Klinikum renoviert seine Kinderstation und ich darf jeden einzelnen Raum in eine andere Tierwelt verwandeln", fuhr sie fort, „das ist großartig!"
„Yeah, ich freu' mich für dich. Das heißt, die neue Waschmaschine ist gerettet?", fragte Joris grinsend und Maggie nickte heftig, während sie nach seiner Hand griff.Mark erwartete sie bereits mit verzweifeltem Blick an der Wohnungstür, offensichtlich war er keinen Schritt weiter gekommen; dafür brüllte das Baby in atemberaubender Lautstärke das gesamte Haus zusammen.
Maggie setzte sich, ohne auf des Mädchens ablehnende Haltung zu achten, einfach mit auf die Couch und sprach sie an: „Was fehlt ihm denn, kann man dir helfen, oder etwas bringen?"
Nach einem für alle offensichtlichen inneren Kampf beugte sie sich vor, um Maggie ins Ohr zu flüstern. Diese nickte nur und verschwand ohne etwas zu sagen aus der Wohnung, die Tür blieb offen stehen.
Joris und Mark wechselten einen verwirrten Blick, bevor sie ihr ins Treppenhaus folgten – ihr Weg endete ein Stockwerk tiefer.
„Oh Katharina, du bist ein Schatz! Danke dir", hörten die beiden ihre Freundin noch sagen, bevor sie schon wieder an ihnen vorbei nach oben stürmte und ein paar Windeln auf den Couchtisch legte.
Es war das erste Mal, dass der Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht des Mädchens erschien auch, wenn es so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.
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Das erste Kapitel ist etwas kürzer, aber für mich passt das Ende da ziemlich gut hin...
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Rabenkinder
General FictionEine Geschichte über das Leben abseits gesellschaftlicher Konventionen. Wer eine klassische Liebesgeschichte erwartet, ist hier falsch. Es gibt sie, aber sie sind nicht Hauptbestandteil bzw. nicht so, wie ihr das vielleicht gewohnt seid. Ich möchte...